Jakob Ingebrigtsen -2018 European Cross Country Championships Tilburg, Holland December 9, 2018 - Photo: Giancarlo Colombo@PhotoRun Victah1111@aol.com - www.photorun.NET #run.photo
„Wunderläufer“ von eigenen Gnaden: Jakob Ingebrigsten und die jungen Widersacher – Von KLAUS BLUME
Zählt Jakob Ingebrigtsen schon jetzt zur raren Schar der „Wunderläufer“? Sein jüngstes Highlight, ein fünf Kilometer langer Straßenlauf in beachtlichen 13:28 Minuten, lässt allerdings nicht ohne Weiteres darauf schließen.
Warum also gerieten die skandinavischen Medien, ob Funk, Fernsehen oder Zeitungen, dann allesamt derart außer Rand und Band wie in diesen Tagen?
Vielleicht, weil dieser 19jährige Norweger im Nachhinein behauptet: „Es motivierte mich, mich selbst zu täuschen.“ Was er vorhatte, wohin es ihn in diesem verschobenen Olympiajahr treiben könne – das alles verschweigt Jakob Ingebrigtsen ebenso wie sein Vater Gert, der zugleich sein Trainer ist.
Auch Jakobs ebenfalls überaus schnellen Brüder Filip (Europameister 2016) und Henrik (Europameister 2012) flüchten sich in nichtssagende Floskeln („Es dauert nicht mehr lange, bis wir rennen“) oder in verdrehten Metaphern: „Vielleicht gibt es in der nächsten Kurve ein richtiges Rennen“ (Henrik Ingebrigtsen).
Was bleibt, sind – wie leider immer – unausgesprochene Zweifel.
Vor allem am Zustandekommen ihrer Leistungsfähigkeit. In erster Linie an der des erst 19 Jahre alten Jakob Ingebrigtsten, des aktuellen Europameisters über 1500 und 5000 Meter. An Ergebnissen, die als Teenager vor ihm niemand auch nur annähernd erzielt hat.
Geht das alles wirklich mit rechten Dingen zu?
Das fragte sich schon bei den europäischen Meisterschaften 2018 in Berlin der derzeit beste deutsche 1500-Meter-Spezialist Timo Benitz. Es war, als Filip Ingebrigtsen – nach einem Sturz – einen Rückstand von sechzig Metern, ruckzuck, aufgeholt hatte und dann an allen vorbei geflogen war. Benitz sagte damals im ARD-Fernsehen: „Das ist schon krass, das sehe ich als Leistungssportler, der auch jeden Tag trainiert, kritisch.“
Das International Journal of Sports Science and Coaching aus dem englischen Winchester kommt – entgegen solcher Zweifel – nun zu dem Schluss, dass „eine aktive Kindheit, ein schrittweises Fortschreiten des Trainingsvolumens an und über der anaeroben Schwelle sowie eine achtsame Überwachung und Regulierung des Trainings die Gebrüder im Distanzlauf auf ein internationales Niveau gebracht hat.“
Ihre wöchentliche Trainingsleistung liege zwischen 140 und 160 Kilometer, wobei bis zu 25 Prozent über der anaeroben Schwelle liegen sollen. Das alles reißt einen, im Vergleich zu erfolgreichen anderen Trainingsplänen, nicht gerade vom Sockel.
Also, woher kommt die Bezeichnung „Wunderläufer“ für den rasenden Teenager Jakob Ingebrigsten?
Wo will er hin? Vor allem aber, auf welcher Distanz? Jakob begann angeblich im Alter von sieben Jahren mit dem Lauftraining und er profitierte sicher davon, dass seine beiden älteren Brüder Filip und Henrik bereits engagierte Leistungssportler waren. Er profitierte zweifelsohne auch davon, dass sie jeden Tag zusammen trainiert haben.
Wie sich daraus das bemerkenswert hohe Selbstvertrauen der Ingebrigtens entwickelt hat, das skandinavische Journalisten ein ums andere Mal verblüfft, vermag das nicht zu erklären. Aber dieses übersteigerte Selbstbewusstsein ist wohl von Nöten, will man zwei anderen europäischen Läufern erfolgreich begegnen, die sich ebenfalls als „Wunderläufer“ gerieren:
Julian Wanders aus der Schweiz und Jimmy Gressier aus Frankreich. Der 24jährige Schweizer Wanders aus Genf lebt und trainiert seit Jahren in der kenianischen Läufer-Hochburg Iten („Home of Champions“). Er will dort herausfinden, ob es möglich ist, als Nichtafrikaner bester Marathonläufer der Welt zu werden. Wanders scheint vom Laufen regelrecht besessen zu sein. Kürzlich äußerte er: „Viele Leute sagen mir, ich könne die Ostafrikaner nicht schlagen, weil sie zum Laufen geboren seien. Das macht mich wütend. Ich bin DAFÜR AUCH GEBOREN.“
Jimmy Gressier aus dem nordfranzösischen Boulogne-sur-Mer ist seit Februar 2020 mit 13:18 Minuten im Besitz des Europarekordes im Straßenlauf über fünf Kilometer. Er ist also schneller als Jakob Ingebrigsten und, wie er sagt, geschah das alles in Vorbereitung auf den Hindernislauf über 3000 Meter. Es gab zwar auf dieser Distanz sechs kenianische Olympiasieger, doch ungeachtet dessen behauptet der junge Mann aus Frankreich: “ Also so stark sind die Ostafrikaner nun auch wieder nicht. Ich kann sie schlagen.“
Großmäulig? Gressier kommt schließlich vom Fußball, stand mit 16 Jahren sogar in jener französischen Mannschaft, die in Guatemala im Halbfinale der UNI-WM spielte. Nun will er also nebenher die Ostafrikaner im Hindernislauf schlagen und 2024 in Paris Olympiasieger werden – „im Marathonlauf“ (Gressier) werden.
Zwei junge Läufer, die – wie Jakob Ingebrigsten – gern als „Wunderläufer“ eingestuft werden. Bei allen, wie auch bei den Ingebrigstens dreht sich alles ums Laufen. Mutter Tone Eva startet gelegentlich bei Freizeitläufen, die 13jährige Tochter trainiert bereits gemeinsam mit den drei Brüdern, um irgendwann auch einmal Europameisterin zu werden. Auch ihr habe der Vater schon früh gesagt, jeder ihrer Wege führe nach oben. Alle trainieren dafür an jedem Tag. Auch bei Regen, Sturm und Schnee. Sogar noch an ihren Hochzeitstagen haben Henrik und Flip ihre Trainingseinheiten absolviert.
Das International Journal of Sports Science and Coaching kommt zu dem Schluss, „dass sportlicher Erfolg nicht allein auf Trainingspläne oder genetische Veranlagung zurück zu führen ist, sondern von einer Vielzahl von Faktoren abhängt, einschließlich einer unterstützenden Umgebung, vor allem aber von der Fähigkeit, mit allen unvorhergesehenen Belastungen umgehen zu können. Das alle trifft auf Jakob Ingebrigsten zu, aber eben auch auf Julian Wanders und Jimmy Gressier.
Es wird also spannend, wer von diesen drei jungen „Wunderläufern“ sein selbst gestecktes Ziel erreicht. Wobei Jakob Ingebrigsten wohl noch lange nicht weiß, ob der Weg sein Ziel ist – oder umgekehrt.
Klaus Blume
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