Symbolbild - Foto: Horst Milde
Warum Schach-Großmeister und Karate-Weltmeister laufen – „Es pustet dir den Kopf leer“ – Von KLAUS BLUME
„Am Wichtigsten“, sagt Roman Slobodjan, „ist Laufen“.
Und wenn es zu kalt ist oder ständig regnet, dann wenigstens im Hallenbad schwimmen. Eröffnungspartien kannst du danach pauken.“ Slobodjan muss es wissen. Der 45jährige Schach-Großmeister aus Potsdam sitzt für das Bundesliga-Team in Baden-Baden am Tisch; der besten Mannschaft der stärksten Schach-Liga der Welt.
Ähnlich wie Slobodjan hält es der norwegische Weltmeister Magnus Carlsen. Auch ihm gehen das gelegentliche Volleyballspiel mit Freunden oder tägliche stille Läufe im Gelände über alles. Dabei schmiede er oft seine Geschäftspläne, wie seine aktuellen Schach-Turniere im Internet. Außerdem: „Wenn Sie viel laufen und möglichst auch noch anderen Sport betreiben, können sie in einem Turnier sogar noch über Stunden hinweg Ihre Konzentration aufrecht erhalten und werden von den Fehlern ihrer Gegner, die weniger Sport treiben und deshalb schneller müde sind, profitieren.“
Ausdauer ist nun mal als das A und O eines Schachspielers; jedenfalls, wenn er ganz nach oben will. Wie Vincent Kaymer, der wie Zehnkampf-Weltmeister Niklas Kaul in der pfälzischen Gemeinde Saulgau lebt. Mit 15 (!) Jahren hat es das „Jahrhundert-Talent“ (SPIEGEL) bereits zum Großmeister gebracht – was zuvor kein anderer Deutscher geschafft hat. Dafür hat er sogar seinen geliebten Fußballsport aufgegeben. Doch das „Schach-Genie“ (BILD) – „Laufen ist mir zu langatmig“ – treibt dennoch emsig Sport und tritt stundenlang kräftig in die Pedale.
„Das gehört zum Schach ebenso dazu, wie das Lernen komplizierter Stellungen. Vor allem: „Es pustet dir den Kopf leer.“ Was bei einem 16-Jährigen, den Experten sogar als möglichen künftigen Weltmeister sehen, nicht ganz unwichtig scheint. Millionen hiesiger Schach-Fans hoffen schließlich darauf, zumal Kaymer – nach dem legendären Emanuel Lasker – der den Titel von 1894 bis 1921 trug, erst der zweite deutsche Weltmeister in der Schach-Geschichte wäre.
Ähnlich talentiert wie Kaymer scheint der 17jährige Hamburger Großmeister Luis Engel zu sein, doch das „Wunderkind“ (so das Portal „Rochade Europa“) mag weder um die Alster laufen, noch allzu fleißig Schachzüge üben. Er wolle lieber Jurist werden. Ein Leben als Schach-Prof – nein, diese Plackerei wolle er sich gar nicht einmal vorstellen.
Sie laufen und laufen.
Ob Schach-Profis oder Ringkämpfer, ob Karateka oder Sportschützen. Gerade in Zeiten der Corona-Pandemie ist sportliche Betätigung wichtig, sowohl für den Körper als auch für den unruhigen Geist. Studien von Aerodynamikern sowohl des Massachusetts Institute of Technology (MIT) als auch der Universität Eindhoven bestätigen jedoch, dass diese Betätigung gerade jetzt nicht ohne Risiko ist.
Denn in der Atemluft der anderen können sich Corona-Viren befinden. Und diese mit Viren angereicherte Atemluft kann sich weit über die empfohlenen zwei Meter Distanz hinaus ausbreiten. Der Physiker Bernhard Blocken aus Eindhoven erklärt: „Das gilt aber nur für Personen, die sich im Windschatten befinden.“ Was das für den Sport bedeutet? „Läufer sollten sich nebeneinander aufhalten und nicht hintereinander. Auch versetzt hintereinander ist man relativ sicher, sogar vor Niesanfällen.“
So, wie Tim Focken, die deutsche Hoffnung bei den Paralympischen Spielen im nächsten Jahr in Tokio. Kilometerlange Läufe zwischen den Schießübungen sind ihm, dem ehemaligen Sprinter, ohnehin wichtig. Weil ihm das Laufen zum Lebenselixier geworden ist. Aber von vorne erzählt: 17. Oktober 2010. Der Fallschirmjäger Focken nimmt in der Nähe von Kundus mit seiner Einheit ein Dorf ein, ein Rückzugsort der Taliban.
Eigentlich Routine. Doch Focken wird von einem Präzisionsprojektil getroffen. Ein US-Hubschrauber fliegt ihn aus. In Koblenz wird er 17 Stunden lang operiert. Heute lebt er, weil traumatisierte Soldaten nicht mehr in Stich gelassen werden, als professioneller Sportschütze bei der Bundeswehr. Damit ernährt der 30-Jährige seine Familie. Um das zu leisten, läuft und schießt er. Tag für Tag.
Denn ohne Laufen geht nichts.
Als das Virus im Frühjahr zum ersten Mal zuschlug, stand Oliver Zeidler an der olympischen Ruderstrecke in München und grübelte: Was nun? Aufs Wasser durfte damals niemand, wie sollte er also trainieren? Also verordnete ihm Vater Heino, als Ruderer einst Junioren-Weltmeister, was wohl? Laufen!
Was für den 2,03 Meter großen und 105 Kilo schweren Einer-Weltmeister die schiere Quälerei war. Aber der ehemalige Schwimmer hielt durch; wohl, weil auch Großvater Hans-Johann Färber nichts anderes von ihm erwartet hatte. Färber hatte es 1972 im berühmten „Bullen-Vierer“ zum Olympiasieger gebracht und damit vorgelebt, ohne Schmerzen gibt es keine Siege. Und Olympia-Gold will der Enkel schließlich auch . . .
So, wie auch Jonathan Horne, 31, aus Kaiserslautern. Immerhin brachte er es 2018 schon zum Karate-Weltmeister und wird spätestens seitdem als Weltbester seiner Zunft gehandelt – weit vor allen asiatischen Meistern. Den 84 Kilo schweren und 1,94 Meter großen Sohn eines Amerikaners und einer Deutschen kann man beim Laufen oft mit seinem Freund Raphael Holzdeppe beobachten. Der Stabhochsprung-Olympiasieger von 2012 und der Karate-Kämpfer scheinen unzertrennlich. Als Holzdeppe 2016 in Rio de Janeiro startete, begleitete ihn Horne, obwohl dessen Sport damals noch nicht im olympischen Programm stand.
„Für mich ist Laufen vor allem Entspannen nach dem Training“, erzählt Horne, „aber es gibt in unserem Nationalteam auch Kämpfer, die Laufen, Laufen und Laufen.“