Ein Interview mit Wolfgang Heinig*
Noch vor einigen Jahrzehnten konnten deutsche Langstreckler Medaillenplätze bei Olympia oder bei Welt- und Europameisterschaften belegen. Wo siehst Du die Ursachen dafür, dass wir heute im Langstreckenlauf international den Anschluss verloren haben?
Wolfgang Heinig: Das ist eine komplizierte Frage. Dafür gibt es eine ganze Reihe von Gründen. Zuerst muss man die veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in Deutschland betrachten. Nachteile im Gegensatz zur Vergangenheit gehen schon in der Schule los, wo Schulsport vielerorts kaum noch vorhanden ist oder selten erfolgt. Damit einher geht weit verbreitete Bewegungsarmut bei Kindern und Jugendlichen. Im elektronischen Zeitalter hat sich das Spielen der Kinder unter freien Himmel, das dortige Herumtoben, zunehmend ins häusliche Umfeld verlagert. Bewegung findet da kaum noch statt. Damit spielt die körperliche Betätigung bei unseren jungen Menschen kaum noch eine Rolle. Ausnahmen bilden Kinder und Jugendliche, die für ein regelmäßiges Training einer Sportart gewonnen werden können. Die Masse der jungen Menschen befindet sich heute in einem ganz anderen körperlichen Zustand, als noch vor 20 oder 30 Jahren. Der Bewegungsdrang und die Belastungsfähigkeit werden wurden allgemein. Zudem belegen Statistiken zunehmende Übergewichtigkeit bei Heranwachsenden etc. Das sind in der Summe veränderte Voraussetzungen, die den Kreis von möglichen Talenten für eine leistungssportliche Karriere stark einschränken.
Haben wir weniger Talente als früher?
Nicht unbedingt. Die Talente sind unter uns, doch sie werden weniger erkannt, bzw. sind verschüttet worden durch unsere moderne, oft ungesunde Lebensweise. Kinder werden heutzutage vor und nach der Schule oftmals von den Eltern mit dem Auto gebracht und geholt. Verbote und gutgemeinte Vorsichtsmaßnahmen schränken die allgemeine Bewegungsfreiheit von Kindern stark ein. Sie können sich weniger entfalten und körperlich fordern, als noch Generationen vor ihnen. Wir sind früher nach der Schule herum gejagt, haben alles Mögliche draußen gespielt … das alles ist heute häufig verloren gegangen.
Wie könnte man heute mehr junge Menschen für die Leichtathletik und später vielleicht bei entsprechendem Talent für den Langstreckenlauf begeistern?
Die Leichtathletik wird immer ihre Anhänger finden. Natürlich vorrangig in den Disziplinen, die nicht ein so hohen Zeitaufwand für ein gezieltes Training benötigen. Während man in den Sprintwettbewerben mit vier, fünf Trainingseinheiten pro Woche von überschaubarer Dauer auskommt, geht beim langfristigen Aufbautraining im Langstreckenbereich je Trainingseinheit um Stunden. Daher gibt es auf der Langstrecke viel weniger Zulauf. Bei Jugendmeisterschaften stehen oftmals zehn Vorläufen über die Sprintstrecken nur kleinen Feldern über die Langstrecken gegenüber. Nur wenige junge Menschen finden, motiviert vom Elternhaus oder Freunden, die begeisterte Freizeitläufer sind, den Weg zum Langstreckenlauf. Dass darunter sich dann auch noch Talente finden, die von Trainern entdeckt und gefördert werden, ist ein Glückstreffer.
Hätten aus der wachsenden Laufbewegung der letzten Jahrzehnte auch mehr Eliteläufer hervorgehen können?
Schaut man genauer hin in die Szene der Freizeitläufer, so sind die meisten 30 Jahre und älter. Oftmals beginnen Sie mit dem Lauf aus begrüßenswerten gesundheitlichen Aspekten. Uns fehlen jedoch die jungen Athleten zwischen 20 und 30. Da lohnt es sich heute als Leichtathletiktrainer mal bei anderen Sportarten wie Fußball etc. zu schauen, ob man nicht Talente für die Leichtathletik begeistern kann, wo sie unter Umständen sogar mehr Erfolgserlebnisse haben, als in ihrer ursprünglichen Sportart. Das war in der Vergangenheit nicht so selten. 800-m-Olympiasieger Nils Schumann beispielsweise war vorher begeisterter Fußballer.
Europameisterschaften in Berlin 2018 – Foto: Kiefner
Oftmals hatten wir im eigenen Lande in den Jahrgängen U20/U23 sehr gute Leistungen von internationalem Rang. Warum kommt davon im Erwachsenenbereich so wenig an?
Hierzu muss man auch hinter die Kulissen schauen, um zu erkunden wie der spezifische Trainingsaufbau bei den Besten erfolgte. Sonst kann man nicht wissen, ob die Spitzenleitung bereits in den jungen Jahren erreicht wurde, oder ob mit Sicht auf Kommendes bei Olympia oder Weltmeisterschaften noch mehr drin ist. Hier kommt es sehr auf die Langfristigkeit des Trainingsaufbaus durch den Heimtrainer an, damit die Spezifik nicht schon im frühen Alter vorweggenommen wurde.
Kommen wir zum Marathon. Zuletzt überdauerte der deutsche Rekord im Marathon mehr als 27 Jahre, ehe Arne Gabius ihn 2015 verbesserte. Wird dieser wiederum so lange Bestand haben?
Das glaube ich nicht. Es kommen sehr viele junge Menschen ins Land, von denen einige auch das nötige Talent und den Willen mitbringen könnten, um auf der Langstrecke, sprich im Marathon in die Elite vorzustoßen. Hier kommt es drauf an, dass sich Trainer und Vereine finden, um diese Talente zu finden, zu entwickeln und zu fördern. Von den Athleten, die wir heute schon kennen, wird es wohl kaum einer schaffen können. Zurzeit haben wir nur einen Arne Gabius und der geht auf die 40 zu …
Und welche Rolle spielt dabei die Sportförderung für unsere Besten? Wie sieht die in Zahlen aus?
Die Förderung hat verschiedene Säulen. Da gibt es die deutsche Sporthilfe. Die greift, wenn der oder diejenige bereits den Sprung in die Nachwuchs-Nationalmannschaft erreicht hat. Dazu gibt es verschiedene Formen der Unterstützung – das reicht kleineren Zuschüssen für Internatskosten von Eliteschulen bis hin zu Zuschlägen beim Bafög und Stipendien. Die Höhe der Unterstützung steigt dann bei weiteren internationalen Erfolgen. Allerdings steht das für meine Begriffe auf dem Kopf, denn die, die schon gut sind, brauchen in der Regel diese Form der Unterstützung nicht, weil sie inzwischen andere Möglichkeiten zu wirtschaftlichen Absicherung haben. Besonders junge Menschen die gerade ihren Schulabschluss haben und gern eine leistungssportliche Karriere in Angriff nehmen würden, die bräuchten die meiste Unterstützung. Dort, wo es darauf ankommt, Leistung zu entwickeln, dort müssten die besten Trainer sein und dort muss die größte Förderung geben. Später wird der Aufwand für wenige die Spitzenathleten kleiner, die in der Regel dann auch durch Bundeswehr, Polizei und andere finanziell abgesichert werden. Die Siegprämien der deutschen Sporthilfe sind allerdings nicht mehr zeitgemäß. 15.000 Euro für einen Olympiasieg sind ein Witz – das entspricht dem Antrittsgeld eines mittelmäßigen Athleten bei einem großen professionellen Stadtmarathon.
Wie könnte man das ganze System für den Langstreckenlauf auf solidere finanzielle Füße stellen?
Es gibt dazu Vorbilder aus anderen Sportarten. Es wird wohl das beste sein in wenigen Zentren in Deutschland Profiteams zu bilden in der die Elite konzentriert ist. Als Geldgeber sind dafür müssten große Konzerne gewonnen werden. Beispielsweise wäre ein solches Zentrum für den Marathon in der Bankenstadt Frankfurt denkbar, wo es milliardenschwere Geldgeber für solche Vorhaben gibt. Zu einem solchem Zentrum würden zwei vollbeschäftigte Trainer und ein medizinisches Team gehören. Das ist Voraussetzung für ein Profiteam. Anfänge dazu gibt es bereits anderswo. Man muss sehen wie sich das entwickelt. Es wäre für Athleten somit ein lohnenswertes und motivierendes Ziel in solch ein Profiteam aufgenommen zu werden und sie würden auch bereit sein, dort hinzuziehen. Zudem wäre eine gewisse Absicherung durch die tragenden Firmen gegeben für die Zeit nach der aktiven Laufbahn.
Wie hoch sind denn die Kosten beispielsweise für Trainingslager, die oftmals in Höhe stattfinden?
Die nahen Berge der Schweiz kommen für den Trainingsaufbau im Winter kaum in Frage, Wenn es in dieser Zeit nach Südafrika geht, fallen schon mal rund 800 Euro Flugkosten an. Hinzu kommen Kosten für Unterkunft für meist drei Wochen. Physiotherapeuten stehen nur Olympiakadern zu, andere müssen sie vor Ort bezahlen. Das ist für Athleten, die noch nicht gefördert werden, wie beschrieben, nur aus privaten Mitteln tragbar. Für die geförderten Athleten sind die Kosten durch derzeitige Fördermittel auch nicht völlig abgedeckt werden. Für eine ganze geplante Serie von Höhentrainingslagern von insgesamt 36 Wochen mit mehrmaliger An- und Abreise kommen für einen Athleten bzw. eine Athletin gut und gern 50.000 Euro an Kosten zusammen.
Käme man auch ohne Höhentraining zum Erfolg?
Trainieren kann man freilich auch zu Hause. Es kommt darauf an, was will ich erreichen? Es geht ja darum durch das Training den Sauerstofftransport im Blut zu verbessern, um mehr Leistung am Muskel pro Zeiteinheit abrufen zu können. Dazu ist die Konzentration der Sauerstoffträger im Blut eine entscheidende Größe. Die Trainingskilometer allein sind dazu nicht maßgeblich wie sich zeigt. Viel allein hilft nicht viel. Das Training in der Höhe setzt zusätzliche Reize zur Anpassung des Körpers. Allerdings müssen diese Reize im Trainingsaufbau auch individuell ganz gezielt gesetzt und das Ergebnis kontrolliert werden. Medizinisches Personal dazu gibt es für die geförderte Leichtathletik nur begrenzt. Eine Rundumbetreuung wie die Profiteams im Radsport, Triathlon oder Tennis haben wir nicht. Wenn man es richtig machen will, gehört heute auch eine wissenschaftliche Begleitung dazu, um die Wirkung des laufenden Trainings beurteilen zu können. Nur so können physiologische Prozesse überwacht werden. Hat man das nicht, kann es leicht zu Irrtümern bzw. zum Übertraining kommen.
Europameisterschaften in Berlin 2018 – Foto. Kiefner
Wird heute im Marathon-Spitzenbereich anders trainiert als früher?
Wir hatten früher viel probiert, auch die Umfänge hochgefahren bis knapp 400 km in der Woche. Das ist vorbei. Heute geht man davon aus, dass in den Spitzen 180 bis 220 km in der Woche reichen. Entscheidend ist die Struktur des Trainings. Geduld und Ruhe sind in einem langfristig angelegten Training angesagt. Den Prozessen im Körper muss Zeit gegeben werden. Zu rechten Zeit braucht es die richtige Regeneration. Das individuell anzupassen ist die große Kunst.
International werden von unter 20-Jährigen schon Weltklassezeiten im Marathon gelaufen, während es vom DLV noch Begrenzungen bei den Wettkampfstrecken in diesen Altersbereichen gibt. Sind diese Regeln noch zeitgemäß?
Für mich ist das überholt. In dem Alter, wo sich der Körper allseits entwickelt, sind Schnellkraftreize ebenso förderlich wie Ausdauerreize. Das sehen wir bei den afrikanischen Läufern, die oftmals in Kinderjahren weite Strecken zur Schule laufen. Das hat denen niemand verboten und geschadet hat es ihnen auch nicht.
Da finde ich es viel gefährlicher, wenn in der Schule Dreisprung stattfindet, wo Knorpel und Knochenaufbau sich noch in der Entwicklung befinden.
Oftmals mangelt es heimischen Marathon-Athleten an den schnellen Zeiten in der Unterdistanz, wie 10.000 m. Welche Rolle spielt das für die Marathonleistung?
Das oftmals zitierte Prinzip erst auf die Bahn und danach zum Marathon halte ich für falsch. Ich bin von Beginn an für alles und praktiziere das auch mit Erfolg. Es gibt Beispiel auf der Schweiz wo Marathonläufer erst später gute Leistungen über 10.000 m nachgewiesen haben. Für mich gibt es eine gewisse Abgrenzung zur Mittelstrecke bis 1.500 m, wo gut Schnellkraft entwickelt wird und dann kommt der Langstreckenbereich. Der reicht von 5.000 m bis Marathon. Wie will ich als Trainer Marathontalente unter meine Langstrecklern erkennen, wenn sie sich nicht auch auf längeren Strecken im Training versuchen und ich sie auf die Bahnstecken festlege. Manch einem fehlt, manchmal sogar genetisch vorherbestimmt und kaum zu ändern, trotz guter Zeiten auf der Bahn das Sprintvermögen auf der letzten Runde. Auf der Bahn kann man damit nicht bestehen, beim Marathon spielt das eine untergeordnete Rolle.
Warum gibt es so viele Verletzungen im Langstreckenbereich?
Das liegt zum einen an der schon beschrieben geringen allgemeinen Belastungsfähigkeit. Eine weitere Ursache sehe ich im Schuhmaterial. Heutige Laufschuhe sind viel kurzlebiger als ihre Vorgänger und es kommt gehäuft zu Achillessehnen- und Fersensporn-Beschwerden. Das tritt weltweit auf. Eine Rolle spielt das mangelnde sportfachliche Wissen zur Einhaltung des richtigen Verhältnisses von Be- und Entlastung im Trainingsaufbau. Wissenschaftliche Trainingsbegleitung. Auch können Trainingspläne nicht primär nach Tagesablauf erstellt werden, sondern umgekehrt. Trainingsplanabläufe erreichen ihr Ziel nur so.
Was muss von Seiten des DLV für den Langstreckenbereich verbessert werden?
Der Laufbereich hat beim DLV leider die schlechteste Lobby. Die Mehrzahl der leitenden Funktionäre kommt aus dem Wurf- und Sprungbereich. Der Laufbereich hat weltweit die größte Konkurrenz und demzufolge auch weit weniger Medaillenchancen. Beispielsweise stehen 14 Aktiven im Hammerwurf oder ein dutzend Stabhochspringern bei einer Weltmeisterschaft 340 Marathonläufern gegenüber.
Eliud Kipchoge in Berlin 2018 – Foto: Victah Sailer
Davon halte ich gar nichts. Man muss eine sportliche Leistung erst einmal respektieren, wenn sie erbracht wurde. Dann kann man die Leistung hinterfragen. Wie kam es dazu, was hat er anders gemacht als andere? Das geht nur indem man sich vor Ort ein Bild über das Training des Athleten macht, wenn es denn möglich ist. Erst so kann man zu einem Urteil kommen. Begeisterung soll freilich mit einer kritischen Hinterfragung einhergehen. Eines ist gewiss: Bei einem Athleten, wie Eliod Kipchoge besteht der Tag aus Laufen, Laufen, Physiotherapie und Schlafen. Wenn ein Athlet hierzulande eine Trainingseinheit zwischen zwei Vorlesungen einbauen muss, und die Erholungszeit als Nachbereitung fehlt, dann kann er das Training auch gleich weglassen, denn es bringt ihm nichts.
Wird die 2-Stunde-Grenze im Marathon fallen?
Ich glaube ja. Es wird viele Nachahmer geben, die sich nicht zuletzt auch sozialen Motiven heraus auf der klassischen Strecke versuchen werden. Mit langfristiger Konzentration, zielgerichteter Vorbereitung und Verzicht auf zu viele Marathonstarts im Jahr, kann es gelingen. Viele 2:05-Läufer wollen heute lieber bei mehreren Läufen Geld verdienen, als sich auf einen Weltrekordversuch zu konzentrieren. Die 2-h-Grenze wird fallen. Ob der Superläufer schon geboren wurde, wissen wir nicht.
Lothar Pöhlitz auf Leichtathletik Coaching-Academy
*Am Rande des 37. Mainova Frankfurt Marathons Ende Oktober führte Condition-Chefredakteur Wolfgang Weising mit dem langjährigen Trainer im Marathonlauf beim DLV und auch Trainer von Gesa Felicitas Krause, Wolfgang Heinig, Ehemann der derzeitigen Marathon-Bundestrainerin Kathrin Dörre-Heinig, dieses Interview.