Markus Rehm verlor als Jugendlicher bei einem Unfall den rechten Unterschenkel. - Foto: DBS / Ralf Kuckuck
Vom DLV vorgeschlagen: Darf Prothesen-Springer Markus Rehm zu Olympia? Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Der Deutsche Leichtathletik-Verband hat Para-Weitspringer Markus Rehm für die Olympischen Spiele vorgeschlagen – aber darf er auch starten? Und wer entscheidet das überhaupt?
Neunzig Leichtathleten sind seit Samstag für die deutsche Olympiamannschaft nominiert. Zu den Prominenten und Erfolgreichen, die auf der Liste fehlen – die Olympiasieger Thomas Röhler und Christoph Harting, die ehemaligen Weltmeister Raphael Holzdeppe und David Storl –, gehört auch der dreimalige Paralympics-Sieger Markus Rehm.
Im Gegensatz zu den Genannten ist der Weitspringer topfit und hat die Olympia-Norm – in seiner Disziplin 8,22 Meter – weit übertroffen. Mit Prothese ist er in diesem Jahr 8,62 Meter weit gesprungen. Das ist paralympischer Weltrekord, nicht aber eine Steigerung des deutschen Rekords, den Lutz Dombrowski seit den Olympischen Spielen von Moskau 1980 mit 8,54 Meter hält.
„Mir geht es um die Botschaft“, sagte Rehm: „Ich kämpfe nicht um Medaillen, ich kämpfe um die Idee der Vielfalt, von Diversity, von Inklusion im Sport.“ Wie könnte das Internationale Olympische Komitee (IOC) seinen eigenen Ansprüchen besser gerecht werden als mit seiner Teilnahme?
Rehm zitierte aus einer Erklärung des Executive Board des IOC vom Juni vergangenen Jahres: „Die Olympischen Spiele sind eine sehr machtvolle, weltweite Demonstration gegen Rassismus und für Inklusion. Sie sind ein Fest der Einheit der Menschheit in all unserer Verschiedenheit.“ Rehm sagt: „Lasst es uns genau so machen!“ Er nehme niemandem etwas weg, weder einen Startplatz noch gar eine Platzierung.
Er würde, das sagt er nicht, Olympia eine neue Facette, ein weiteres Thema geben. Wie wichtig das ist, belegt Rehm mit der Episode von einem Siebzehnjährigen aus dem Sportinternat in Leverkusen. Beim Schulwettbewerb „Jugend trainiert für Olympia“ durfte dieser, weil er mit einer Prothese laufen muss, nicht gemeinsam mit seinen Freunden und Schulkameraden in der Staffel starten. „Das kann doch nicht wahr sein“, kommentiert Rehm. Es gelte, die Wahrnehmung zu ändern.
Deutscher Meister im Weitsprung
2014 in Ulm wurde Rehm bei den Titelkämpfen des DLV deutscher Meister im Weitsprung. Der Verband änderte daraufhin die Regeln. Rehm startet seitdem außerhalb der Wertung. Nun hat der DLV Rehm für Tokio vorgeschlagen – auch dort in gesonderter Wertung. „Voraussetzung dafür war, dass nicht drei DLV-Weitspringer bis zum Ende des Nominierungszeitraums am 29. Juni 2021 die Qualifikationsanforderungen erfüllen konnten“, teilt er mit.
„Dieser Vorschlag erfolgte in Orientierung an die seit 2015 geltenden nationalen Bestimmungen, die einen gemeinsamen Start von paralympischen und olympischen Athleten bei ,gesonderter Wertung‘ national ermöglicht. So könnten sich Weltklasse-Para-Athleten wie Markus Rehm und olympische Athleten trotz der unterschiedlichen Mechanik der Leistungserbringung gemeinsam auf höchstem Niveau bei Wettkämpfen präsentieren.
Der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) in seiner Funktion als Nationales Olympisches Komitee will Rehm unter der Voraussetzung nominieren, dass der Weltverband World Athletics ihm eine Startgenehmigung erteilt. World Athletics wiederum hält sich nicht für zuständig. Die Entscheidung, den Paralympics-Sieger von London und Rio in den olympischen Wettbewerb von Tokio zu integrieren, ohne dass er Olympiasieger werden kann, muss das Internationale Olympische Komitee (IOC) treffen. An diesem Montag ist Meldeschluss.
Es geht nicht mehr allein um die Frage, ob Rehm einen Vorteil dadurch hat, dass er nicht mit seinem linken Bein abspringt, in der Diskussion oft auch „biologisches Bein“ genannt, sondern mit seiner HighTech-Carbon-Feder, die im Wettkampf den rechten Unterschenkel ersetzt, den er als Jugendlicher bei einem Unfall verloren hat.
„Tut er das nicht, glaube ich dem DOSB gar nichts“
Regel 6.3.4, nach der ein Athlet beweisen muss, dass sein mechanisches Hilfsmittel ihm keinen Vorteil verschafft, hat der oberste Sportgerichtshof in Lausanne (Cas) im Herbst vergangenen Jahres als „rechtswidrig und ungültig“ eingeordnet. In der Causa Blake Leeper entschied er zwar gegen den Sprinter, der sein Startrecht auf zwei überlangen Prothesen erstreiten wollte. Doch er beschied eine Umkehr der Beweislast: Nicht der Athlet ist in der Pflicht, nachzuweisen, dass er keinen Vorteil hat, sondern der Verband muss den Vorteil durch die Prothese belegen.
Rehm sieht sich, sollte dies die entscheidende Frage sein, auf der sicheren Seite. Er war Gegenstand einer 2016 veröffentlichten Studie, in der Wissenschaftler aus Köln, Tokio und Boulder (Colorado) feststellten, dass ein Vorteil seiner Carbon-Prothese, die seinen linken Unterschenkel ersetzt, nicht nachgewiesen werden könne, zumal Rehm durch sie langsamer anlaufe als ein Nichtbehinderter. Bei den deutschen Meisterschaften von Braunschweig in diesem Jahr erreichte Rehm 8,29 Meter. Meister wurde Fabian Heinle mit 7,81 Meter.
Robert Harting, Olympiasieger im Diskuswerfen von London 2012, vertritt mit seiner Agentur brandstalentsrights den Weitspringer. Der DOSB solle Rehm schon deshalb nominieren, weil es die richtige Entscheidung sei, fordert er:
„Dann glaube ich ihm, was er sagt. Dann glaube ich sein Bekenntnis, gemeinsam sind wir stärker. Dann glaube ich, dass der DOSB eine gesellschaftliche Rolle spielen will. Man muss einfach mal Erster sein, sich trauen, etwas zu bewegen. Tut er das nicht, glaube ich dem DOSB gar nichts.“
Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Montag, dem 5. Juli 2021