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18
04
2019

Clémence Calvin - Foto: Victah Sailer

Verdächtiger Marathon: Zum Davonrennen – Ein Kommentar von Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

By GRR 0

Die Temperaturen steigen, immer mehr Läufer sind auf den Straßen. Auch die Marathon-Saison beginnt – begleitet vom omnipräsenten Doping-Verdacht. Nun aber scheint es einen besonders kuriosen Fall zu geben.

Frühjahr, Marathon-Saison. Kenianer und Äthiopier rennen, sprinten und siegen um die Wette, doch Schlagzeilen machen die in ihrem Windschatten.

Beim Boston-Marathon am Montag, im Spurt entschieden zwischen Lawrence Cherono und Lelisa Desisa, bejubeln Publikum und Journalisten Scott Fauble und Jared Ward. Die beiden Amerikaner kamen, was niemand erwartet hatte, nach weniger als 2:10 Stunden ins Ziel, erreichten die Plätze sieben und acht und qualifizierten sich womöglich für den Marathon der Olympischen Spiele von Tokio 2020.

In Paris zog Clémence Calvin alle Augen auf sich, auch die der Fotografen, als sie Vierte wurde, knapp eine Minute hinter der Siegerin Gelete Burka und wenige Schritte vor Abrha Milaw, dem Sieger bei den Männern, die später gestartet waren. Die Französin schlug ihre Hände derart dramatisch vors Gesicht und reckte sie dann in den Himmel, dass die Zeitung Le Parisien am nächsten Tag die Schlagzeile brachte: „Warum es kein Zielfoto vom Sieger gibt“. Eben weil die Geschichte Clémence Calvin gehörte.

Kampf gegen einen Verdacht

Im vergangenen Jahr gab die Läuferin bei der Europameisterschaft in Berlin ihr Marathon-Debüt – und wurde Zweite. In Paris lief sie nun wie versprochen französischen Rekord, 2:23:41 Stunden. Ihr Jubel und ihr Triumph gelten allerdings nicht allein der Bestmarke; diese dürfte noch einige Zeit auf Anerkennung warten. Die große Geste galt ihrem Kampf gegen einen Verdacht, der mit Händen zu greifen ist.

Anders als bei den vielen, die manchmal erst Jahre nach ihren Erfolgen als Doper entlarvt wurden, wären bei ihr Disqualifikation und Sperre von vornherein keine Überraschung.

Clémence Calvin hat vor Gericht eine vorläufige Sperre durch die französische Anti-Doping-Agentur (Alfd) aufheben lassen, und der Conseil d‘Etat, den sie anrief, tat dies nicht, weil er die Sperre für ungerechtfertigt hielt, sondern weil die juristische Argumentation nachgeholt werden kann, der Paris-Marathon aber nicht. Clémence Calvin drohen vier Jahre Sperre und die Aberkennung ihrer sportlichen Erfolge. In einem schwebenden Verfahren ist sie mit dem Lauf in Vorleistung getreten.

Im März waren der Direktor der Afld und zwei seiner Kontrolleure nach Marokko geflogen, um die Läuferin im Trainingslager einer Kontrolle zu unterziehen. Sie empfanden den Verdacht, dass sie dope, deshalb als dringend, weil Calvin Anfang des Monats beim Halbmarathon von Paris fünf Kilometer auf der Straße so schnell gelaufen war wie noch keine Französin vor ihr. Doch weder sofort noch in den folgenden Tagen unterzog sie sich der Doping-Kontrolle, die für die Anerkennung des Rekords notwendig ist.

Das hieß für die Kontrolleure: Auf nach Marokko.

Von dem, was dann in Marrakesch geschah – im Trainingslager war sie nicht – gibt es zwei Versionen. Die Kontrolleure werfen dem Ehemann und Trainer der Läuferin, dem Mittelstreckler Samir Dahmani, vor, sie aufgehalten zu haben, während sie sich aus dem Staub machte. Sie dagegen behauptet, die Kontrolleure hätten sich als Polizisten ausgegeben, hätten sich aufgeführt wie Cowboys, und der Direktor der Agentur, Damien Ressiot, habe sie so heftig geschlagen, dass ihr Kind vom Arm auf den Boden gestürzt sei. Was stimmt? Vielleicht geht es um das Recht von Athleten. Vielleicht geht es aber auch darum auszuloten, wie weit Dreistigkeit führt.

Ein Kommentar von Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am Mittwoch, dem 

Michael Reinsch

Korrespondent für Sport in Berlin

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author: GRR