Johannes Vetter - Foto: 2019 World Outdoor Championships Doha, Qatar Sept 27-Oct 06, 2019 Photo: Victah Sailer@PhotoRun Victah1111@aol.com
Team-EM der Leichtathleten: Vetters Speer landet bei 96,29 Metern – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Es ist die Fortsetzung seiner überragenden Leistungen von fünf Starts und fünf Siegen seit Ende April. Johannes Vetter gelingt sein zweitbester Wurf – nur anderthalb Meter kürzer als sein Rekord.
Wie bremst man sich, wenn man der beste Athlet der Welt in seiner Disziplin ist, der Höhepunkt des Jahres, vielleicht sogar der des Lebens, aber noch knapp zwei Monate auf sich warten lässt?
Johannes Vetter, ein Speerwerfer praktisch ohne Konkurrenz, tut sich erst mal keinen Zwang an. Bei der Team-EM der Leichtathleten in Chorzów (Königshütte) in Schlesien warf er den Speer 96,29 Meter weit – sein zweitbester Wurf, nur anderthalb Meter kürzer als sein deutscher Rekord, den er im September am selben Ort aufstellte
In eine neue Dimension sei er vorgedrungen, hieß es vor acht Monaten, als er bis auf 72 Zentimeter an den vermeintlichen Jahrhundert-Weltrekord des Tschechen Jan Zelesny herankam, die 98,48 Meter von Jena 1996. Hundert Meter seien möglich, hat Vetter seitdem ein paar Mal prognostiziert.
96,29 Meter also – die Fortsetzung seiner überragenden Leistungen von fünf Starts und fünf Siegen seit Ende April: 91,50 Meter in seiner Heimatstadt Offenburg, 91,12 in Split, 94,20 in Ostrau, 93,20 in Dessau und nun 96,29 in Chorzów. Für die Konkurrenz ist er damit unerreichbar, für die Öffentlichkeit der Favorit auf den Olympiasieg von Tokio in diesem Sommer und für sich selbst längst nicht in einer Frühform, die für den Sommer einen Leistungsabfall befürchten lässt. „Das war geil, war ziemlich Weltklasse“, sagte Vetter dem Sport-Informations-Dienst: „Heute wäre etwas ganz Großes drin gewesen.“
Nächste Station Braunschweig
Doch es bleibt bei der Andeutung vom Weltrekord. Der 28 Jahre alte Sachse, der in Baden seine Heimat gefunden hat und dort von Bundestrainer Boris Obergföll betreut wird, geht mit halber Kraft durch seine Staunen machende Saison. Nicht bei den einzelnen Würfen, wohl aber beim Wettkampf. In Polen horchte Vetter ganz tief in sich hinein, bekam eine Rückmeldung vom Oberschenkel und beendete den Wettkampf nach zwei gewaltigen Würfen. Der erste war auf 94,24 Meter gegangen. „Echt schade“, behauptete er.
Solche Entscheidungen, hatte er früher schon verraten, machten Obergföll vermutlich stolzer als weitere großartige Resultate. Denn selbst bei einem Kraftprotz wie Vetter, der bei 1,88 Meter Körpergröße reichlich 105 Kilo Muskelmasse auf die Waage bringt, könnte der höchst anspruchsvolle und ebenso belastende Bewegungsablauf, der bei Vetter aus rasendem Anlauf, Stemmschritt und Schrei oft in die Bauchlage führt, zu der ein oder anderen Verletzung führen. Die aber hat Vetter in den ruhigen Monaten der Corona-Pandemie mit Ellbogen-Operation und allgemeiner Schonung rundum
Es sei nichts Ernstes, sagte Vetter über das Zwicken im Bein, als der Wettkampf in Chorzów gewonnen war. Am nächsten Wochenende wird er in Braunschweig erwartet; im vergangenen Jahr gewann er dort souverän den Titel und beklagte sich hinterher über den rutschigen und damit gefährlichen Anlauf. Wenn er nicht hätte kürzer treten müssen, hätte er weiter werfen können, sagte er damals.
Nun kündigt er für den Lauf der Woche eine Nachricht zur Situation seines Oberschenkels an. Ein Schelm, der glaubt, er wisse, was kommt. Was seine Leistung angeht, deutete Vetter an: Er habe noch ein Ass im Ärmel.
Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Sonntag. dem 30. Mai 2012