Blog
19
02
2018

Stichworte zur Sportentwicklung – Neuer Essay-Band von Helmut Digel – Prof. Detlef Kuhlmann

By GRR 0

Helmut Digel kennt jeder. Helmut Digel ist einer der renommiertesten Sportwissenschaftler in Deutschland vor allem auf dem Gebiet der Sportsoziologie. Helmut Digel ist einer der bekanntesten Sportfunktionäre der Gegenwart vor allem mit seinem ehrenamtlichen Engagement u.a. im Deutschen und im Internationalen Leichtathletikverband (DLV bzw. IAAF).

Seit einigen Jahren ist Helmut Digel allerdings altersbedingt in Ruhestand und ohne offizielle Ämter und Funktionen. Trotzdem ist er dem Sport und der Sportwissenschaft weiterhin verbunden. Sein Publikationsaufkommen wächst und wächst – auch fernab seiner letzten Wirkungsstätte als Direktor des Instituts für Sportwissenschaft der Universität Tübingen. Jetzt hat er – wenn man so will – pünktlich zu seinem 74. Geburtstag Anfang Januar 2018 sich selbst und uns ein originelles „Buchgeschenk“ vorgelegt:

Ein Band mit insgesamt 43 Essays, die er ganz bescheiden als „Stichworte zur Sportentwicklung“ (Untertitel) kategorisiert und im Spannungsbogen vom „Sport zwischen Faszination und Abscheu“ (Titel) einordnet.

Diese Stichworte gliedert er nach einem sehr persönlichen Vorwort in fünf Kapitelüberschriften zu: Es gibt sie noch – Werte im Sport (1), Ethische Herausforderungen des Spitzensports (2), Ethischer Verfall (3), Olympische Spiele am Scheideweg (4) und Reformbedarf (5). Die Textsorte Essay zeichnet sich u.a. dadurch aus, dass ein Sachverhalt kurz und pointiert und und Literaturverweise bzw. Fußnoten abgehandelt wird. Bei Digel ist das jedenfalls so der Fall. Seine Beiträge sind im Durchschnitt nicht länger als fünf Seiten – zwei Ausnahmen stechen hervor: In einem Text über zwölf Seiten stellt er „IOC-Präsident Bach auf dem Prüfstand“ und bescheinigt ihm ein gutes Zeugnis: „Bachs Arbeit der letzten vier Jahre kann sich somit durchaus sehen lassen“ (S. 157) , zumal „es derzeit für IOC-Präsident Bach keine Alternative gibt“ (S.158).

Der zweite Ausnahme-Text ist elf Seiten lang, hat aber sieben Tabellen und ist im Kern ein Plädoyer für innerverbandlichen Reformbedarf: „Eine Reform der olympischen Verbände ist längst überfällig“ lautet dazu der unmissverständliche Appell. Typisch Digel – werden manche sagen und darauf verweisen, dass Helmut Digel immer schon ein Mann der klaren Worte gewesen ist. Das gilt auch für die Mehrzahl seiner hier vorgelegten Essay-Texte, die sich durch plausible Positionen zur Sportentwicklung auszeichnen. Man muss diese nicht gleich und vollends teilen, kann sich aber seiner eigenen Argumentation mit Hilfe der Digel-Aspekte immer wieder neu vergewissern.

Apropos neu: In seinem sehr persönlich gehaltenen Vorwort beschreibt Helmut Digel sehr einfühlsam seine neue Lebenssituation jenseits vom aktiven Berufs- und Sportfunktionärsdasein im Chiemgau, wo er zusammen mit seiner Frau in einer „der schönsten Regionen Deutschlands“ (S. 9) den Lebensabend verbringt. Das aktive Sporttreiben gehört nach wie vor dazu, aber das Leben auf dem Dorf weit weg von den (Sport-) Metropolen veranlasst Helmut Digel einerseits zu mehr Distanz vom großen Geschehen und andererseits zu einem sehr viel schärferen Blick und zu viel genaueren Beobachtungen vor Ort – mehr noch: Der Sport im kleinen Chiemgau ist quasi der Boden, auf dem er seine „Momentaufnahmen zur jüngsten Sportentwicklung“ (S. 11) aufbaut und lokale mit globalen Motiven zu verbinden versucht – am Ende des Vorwortes heißt es dazu: „Eine Brücke zwischen einem selbstlosen ehrenamtlichen Vereinssport und einem kommerzialisierten Hochleistungssport darf nicht abgebrochen werden“. Die Tragfähigkeit dieser Brücke muss immer wieder neu getestet werden. Helmut Digels Texte liefern das Instrumentarium, um diesen Test verlässlich durchzuführen.

Wer das Buch gleich von vorn nach dem Vorwort weiterliest, wird im Abschnitt über die Werte, die es doch noch gibt, vom Autor gleich mitgenommen zum Wettkampf nach „Hochfelln im Herbst 2014“ (Überschrift), wo die Textsorte Essay mit der Textsorte Reportage verschwimmt. Helmut Digel begleitet seine Leserinnen und Leser zu einem Berglauf, dem Internationalen Hochfelln-Lauf mit dem Skiclub bergen als Ausrichter. Er findet aus Anlass der Deutschen Berglaufmeisterschaften mit mehr als 400 Aktiven statt, die 900 Höhenmeter zu überwinden haben. Hier trifft Breitensport auf Spitzensport und umgekehrt, weil sich hier „im wahrsten Sinne des Wortes eine Läuferfamilie“ (S. 16) trifft. Digel präsentiert den Text als eines seiner „schönsten Sporterlebnisse“. Wer wollte da nicht am liebsten selbst dabei gewesen sein?

Mindestens ein zweiter Text ist mindestens genauso rührend geschrieben und spielt ebenfalls vor Ort in der lokalen Sportvereinsszene seiner neuen Heimat: Hier geht Helmut Digel, der u.a. selbst auf eine Karriere als Handball-Bundesligaspieler zurückblickt, einmal unter die Turner. Er ist gelandet bei der Wössner Männerriege, die sich zum 32. Male zu ihrer Jahresabschlussfeier im Streichengasthof trifft, nachdem man vorher turnerische Übungen und zum Abschluss ein Volleyballspiel absolviert hatte. Jetzt wird gegessen und getrunken, gesungen und gelacht – Lebensfreude pur, lautet schon sein Zwischenfazit als aktiver Beobachter, und am Ende wird seine gelebte Erfahrung noch prägnanter aufgearbeitet: „Spricht man heute von Werten des Sports, so sind es genau jene Werte, die an diesem Abend gelebt wurden. Kameradschaft und ein geselliges Miteinander, ausgelöst durch ein aktives Sporttreiben, das sich neben seiner gesundheitlichen Bedeutung vor allem durch das soziale Miteinander auszeichnet. Genau dies ist es, was aktives Turnen, Sport und Spiel möglich macht“ (S. 22).

Was suchen und finden Menschen im Sport? Diese Frage haben zusammen mit Digel schon andere Sportwissenschaftler gestellt und nach Antworten gesucht … Helmut Digel fokussiert hier eine dieser sog. Sinngebungen, nämlich Geselligkeit und Gemeinschaft. Sie kann man – das muss man fairerweise hinzufügen – auch anderswo außerhalb des Sports finden. Wer aber Geselligkeit und Gemeinschaft (gepaart mit Gesundheit) im Sport und dazu noch im Verein sucht, der findet hier ein besonders wertvolles Format, das (so Digel ganz am Ende) „ohne Zweifel als Gegenmodell des derzeit üblichen Mediensports“ taugt.

Verantwortliche aus Sportorganisationen fühlen sich womöglich von der fragenden Überschrift des Essays mit dem Titel „Sportverbände – ein notwendiges Übel?“ gleich angesprochen.

Hier hält Helmut Digel einmal mehr den Sportverbänden den Spiegel vor. Einer seiner Befunde dazu geht so: Sportverbände zeichnen sich vor allem durch ihre umfangreichen Sprachprodukte aus. So weit so gut – aber wenn dem „Talk about“ keine „Action live“ unmittelbar folgt, dann lautet das Ergebnis bei Digel klipp und klar: „Verschwendung von Ressourcen“.

Digel geht am Ende noch weiter: Er fordert eine „Reform der Verbandsarbeit“ und empfiehlt mehr „Risikobereitschaft zur Modellierung neuer Organisationsmuster“ (S. 198). Eine Einladung zum Nachdenken über das eigene verbandliche Schaffen kann das alle mal sein.

Bestenfalls geht davon sogar (gemäß Buchtitel) eine neue „Faszination“ für die zukünftige Verbandsarbeit aus. Digel hätte sein Lektüreziel als „Stichwortgeber zur Sportentwicklung“ jedenfalls erreicht. 

Helmut Digel: Sport zwischen Faszination und Abscheu. Stichworte zur Sportentwicklung. Schorndorf 2018: Hofmann. 228 S.; 24,90 €

Prof. Detlef Kuhlmann

author: GRR

Comment
0

Leave a reply