Symbolbild - Kinder und Jugendliche brauchen Sport - Foto: Horst Milde
Sport jetzt! Kerstin Holze ist Kinderärztin und Vorstandsvorsitzende der Deutschen Kinderturn-Stiftung. Sie warnt davor, dass Bewegungsmangel die gesunde körperliche und geistige Entwicklung gefährdet. Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
„Das goldene Lernalter lässt sich nicht verschieben“
Was fehlt Kindern im Lockdown?
Für uns Erwachsene ist diese Pandemie eine Herausforderung, aber sie ist nur ein Abschnitt unseres Lebens. Für Kinder nehmen die vergangenen Monate einen sehr großen Teil ihres bewusst erlebten Lebens ein. Auch wenn wir wissen, dass Sport für Erwachsene wichtig ist. Unter Pandemiebedingungen nach zweiundzwanzig Uhr joggen gehen zu können ist schön. Für Kinder dagegen ist Bewegung etwas, das sie brauchen, um gesund groß zu werden. Das haben wir ihnen vorenthalten, aus guten Gründen. Aber wir müssen uns klarmachen: Die natürlichen, gesunden Bedingungen, die wir Kindern bieten müssen, haben wir beschnitten.
Was bedeutet das konkret?
Englisch können Sie mit großer Motivation in jedem Alter lernen. Für das Erlernen motorischer Grundlagen gibt es ein goldenes Lernalter, das sich nicht einfach verschieben lässt. Sport ist Grundlage für weiterführende Fähigkeiten. Wer rückwärts laufen und eine Rolle kann, tut sich oft leichter beim Rechnen. Umgekehrt: Wer das nicht kann, geht ein höheres Risiko ein, später bei komplexen Leistungen überfordert zu sein. Wenn Kinder nicht komplexe Bewegungsabläufe lernen – und sie lernen diese durch qualifizierte Sportangebote, wie zum Beispiel das Kinderturnen -, werden sie sich später schwerer tun mit komplexen Denkvorgängen, mit schwierigen Zusammenhängen.
Sind die Defizite auszugleichen, oder wird diese Generation ihr Leben lang daran zu tragen haben?
Das wird sich nicht einfach zurechtruckeln. Auch vor Corona waren die Bedingungen für bewegtes Aufwachsen nicht optimal. Die Pandemie hat das verstärkt. Wenn wir dorthin zurückkehren, wo wir vorher waren, werden nicht wenige Kinder das nicht aufholen können. Wenn wir aber dem Thema die notwendige Priorität einräumen, können wir dies in einer gemeinsamen Kraftanstrengung schaffen. Kindheit findet jetzt statt. Sie ist nichts, was wir am Ende der Pandemie nachholen können. Es ist unsere Pflicht, die Rahmenbedingungen für ein bewegtes Aufwachsen zu schaffen. Alle gehören jetzt an einen Tisch.
Sind die Sommerferien der Wendepunkt? Muss es spätestens dann wieder losgehen, dass Kinder gemeinsam Sport treiben?
Die Sommerferien wären zu spät. Wir müssen sofort am Montag anfangen. In einigen Ländern sind es noch zwei, zweieinhalb Monate bis zu den Sommerferien. So lange können wir nicht warten.
Kindheit findet jetzt statt. Sie ist nichts, was wir am Ende der Pandemie nachholen können. – Foto: Horst Milde
Der meiste Sport ist aber trotz sinkender Inzidenzwerte immer noch verboten.
Verboten ist Sport, wie wir ihn kennen. Ich sehe ein, dass wir immer noch kein Kinderturnen in der Halle machen dürfen, zu dem Kinder aus fünf Grundschulen und vier Kindergärten zusammenkommen, die sonst keinen Kontakt haben.
Aber?
Wir können mit unseren Turnmatten an die frische Luft gehen. Außerdem: Im Kindergarten tragen die Kinder aus guten Gründen keine Masken und sind in festen Gruppen zusammen. Wenn die Kinder nicht zum Turnen kommen können, sollte das Turnen zu den Kindern in die Kita kommen.
Was braucht es dafür?
Vor allem müssen wir realisieren, dass ein Gesetz, das per se keine Externen im Kindergarten zulässt, nicht sinnvoll ist. Wir müssen gerade jetzt die Kooperation zwischen Kita und Sportverein ausbauen und die qualifizierten Übungsleiter zu den Kindern kommen lassen. Wir brauchen umfangreiche unbürokratische Testmöglichkeiten für Übungsleiter und müssen dafür sorgen, dass die Kinder zusammen Sport treiben, die ohnehin den ganzen Tag zusammen sind. Das ist nicht kompliziert. Mit dem pauschalen Betretungsverbot igeln sich Kita und Schule ein. Das ist nicht die Lösung.
Wer muss aktiv werden?
Vom Gesetzgeber brauchen wir die Erlaubnis. Wenn ein gutes Konzept vorliegt, muss er Sport in Kita und Schule erlauben. Die Kitas müssen sensibilisiert sein, dass dies wichtig ist. Und wir, die Sportorganisationen, müssen dafür sorgen, dass bei Bedarf Kitas und Übungsleiter zueinanderfinden. Wir müssen außerhalb der gewohnten Bahnen denken. Wenn es, wie so oft, an Platz mangelt, muss man sich klarmachen, dass Kongresshallen, Versammlungs- und Veranstaltungsräume leer stehen. Auch sie können wir für das Kinderturnen nutzen.
Die Bundesregierung hat das Aktionsprogramm „Aufholen nach Corona“ für Kinder und Jugendliche aufgelegt. Wird es helfen?
Es hat gute Ansätze. Aber Sport und Bewegung an sich, nicht als Träger außerschulischer Jugendbildung, kommen darin kaum, praktisch gar nicht vor.
Wir sprechen von einem Zwei-Milliarden-Euro-Programm. Darin kommt Sport nicht vor?
Leider nein. Der organisierte Sport muss reflektieren, dass es ihm nicht ausreichend gelungen ist, klarzumachen, dass qualifizierte Bewegung für Kinder und Jugendliche fundamental ist. Dass Sport Teil der Bildung ist, die sie brauchen. Als Vertreter des organisierten Sports muss man sich fragen: Warum ist uns das nicht gelungen? Das ist unsere Aufgabe.
Ist die Schwerpunktsetzung des Programmes falsch?
Eine Milliarde ist vorgesehen für die Kernfächer Deutsch, Mathe und eine Fremdsprache. Das Unterrichtsfach Sport kommt nicht vor. Schon nach Einführung des Ganztags 2003 haben elf von sechzehn Bundesländern das Fach Sport von drei auf zwei Stunden reduziert. Weil Lehrer nicht vom Himmel fallen. Meine große Sorge ist, dass Sport die letzte Wiese ist und abgegrast wird, um Deutsch, Mathe, Englisch zu bedienen. Das wäre falsch. Was führt zu einer Steigerung der kognitiven Leistung? Sport. Gerade unter diesen Bedingungen müssen wir massiv in qualifizierte Bewegungsangebote investieren, wie es sie im Sportunterricht und im Verein gibt.
Der Sport kritisiert seit Langem den Sportunterricht an Grundschulen. Müssen Sie nun sagen: besser als gar nichts?
Die Kritik des Sports bezieht sich darauf, dass vor allem in den Grundschulen – in einem Alter, in dem die Weichen für ein bewegtes Leben bis ins hohe Alter gestellt werden – in zirka fünfzig Prozent der Fälle das Fach Sport fachfremd unterrichtet wird. Auch hier gilt: Sportlehrer fallen nicht vom Himmel. Fachfremd unterrichtende Lehrer sollten mindestens eine Kinderturnlizenz als Ausbildung in der motorischen Grundlagenvermittlung vorweisen müssen.
Auch in Grundschulen wird der Rechtsanspruch auf Ganztagesbetreuung kommen.
Das ist gut, aber das wird das Personalproblem verschärfen. Wenn die aktuellen finanziellen Unterstützungen in zwei, drei Jahren auslaufen und in den Kommunen gespart werden muss, darf dies nicht zulasten der freiwilligen Leistungen für Freibäder und Sportstätten gehen. Bei der Vorstellung kriege ich Bauchschmerzen. Die Kommunen müssen dann verstanden haben, dass dies elementare Leistungen sind. Dass auf keinen Fall Sportstätten geschlossen werden dürfen. Sonst potenzieren wir alle die Probleme, die uns Corona gebracht hat.
Kinder-/Bambinilauf – Kinder brauchen Bewegung – Foto: Horst Milde
Gibt es die viel beschworene Parallel-Pandemie aus Übergewicht, Fettleibigkeit, Muskelschwund, Diabetes, Herzschwäche, Depression?
Ich würde das eher als Epidemie bezeichnen; das Problem betrifft vor allem die entwickelten Länder. Und: ja. Es gab das Problem des Bewegungsmangels schon vor Corona. Ein Großteil unserer Kinder erreicht das Minimalziel an Bewegung nicht. Wir sprechen von sechzig Minuten pro Tag. Dies ist die Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation und liegt weit unter der nationalen Empfehlung. Wir wissen, wie wichtig Bewegung ist für die Persönlichkeitsentwicklung, für die exekutive Funktion …
… die Fähigkeit, eigenes Handeln optimal der Situation anzupassen …
… für die Prävention von Adipositas und ADHS, für den Grundstock eines bewegten Lebens mit geringerem Risiko von Coronarerkrankungen und Stürzen im Alter. Da wir all dies wissen, können wir es uns als Gesellschaft schon ökonomisch nicht leisten, Kindern Bewegung vorzuenthalten. Landwirtschaftsministerin Klöckner hat eine Verordnung auf den Weg gebracht, die Hundehalter verpflichtet, ihren Tieren mindestens eine Stunde Bewegung am Tag zu ermöglichen. Ich halte das nicht für falsch, wünsche mir aber auch für unsere Kinder das Recht auf eine tägliche Bewegungsstunde.
Verblöden Kinder durch Bewegungsmangel?
So weit würde ich nicht gehen. Aber sie werden nicht schlauer. Es gibt Kinder, die sich nicht bewegen und superschlau sind. Sport und Bewegung legen die Grundlage dafür, dass Kinder große Chancen haben, ihr gesamtes Potential zu nutzen. Wir diskutieren viel, was die Kinder während der Schulschließungen nicht gelernt haben. Aber unser Ziel ist es nicht, dass wir Hochleistungskinder entwickeln, die alles in Mathe und Deutsch können. Unser Ziel muss sein, dass wir glückliche, zufriedene und lebenskompetente Kinder haben. Was wissen wir, wie das Leben in zwanzig Jahren aussehen wird? Unsere Kinder werden damit umgehen müssen. Wenn sie im Sport Teamfähigkeit gelernt haben, Ausdauer, mal die Zähne zusammenzubeißen, ohne unfair zu sein, hilft ihnen das in zwanzig Jahren.
Nehmen Suizide von Kindern zu?
Ich habe keine Studien dazu. Aber in der Klinik, in der ich arbeite, erlebe ich immer wieder Kinder, die versucht haben, sich zu suizidieren. Sie beschreiben, dass die anderthalb Jahre Pandemie eine enorme Belastung sind. Das geht an diesen Kindern nicht spurlos vorüber. Grundsätzlich: Die Bedingungen von Kindern und Jugendlichen haben sich in der Pandemie verändert. Ihnen fehlt der Austausch mit Gleichaltrigen. Ihnen fehlt, zu lernen, wer sie selbst sind, in der Spiegelung mit anderen, wie sie im Spiel vorkommt.
Wie groß ist das Problem des ausgefallenen Schwimmunterrichts?
Ich habe schon viele verunglückte Kinder gesehen. Wasser und Kinder – das bedeutet Spaß und Freude, aber das bedeutet auch große Gefahr. Deshalb muss jedes Kind schwimmen können. Das ist nicht verhandelbar. Und schwimmen bedeutet nicht: Seepferdchen. Schwimmen können heißt, sich zehn, fünfzehn Minuten lang über Wasser zu halten. Nur so hat man eine Chance, gerettet zu werden.
Seit anderthalb Jahren sind Bäder zu.
Alle dritten Klassen haben nicht richtig schwimmen gelernt. Die Vereine bieten seit anderthalb Jahren keinen Schwimmunterricht mehr an. Sie hatten vorher schon lange Wartelisten, nicht genug qualifiziertes Personal und viel zu wenig Schwimmzeit. Ich sehe nicht, wie wir das ohne zusätzliche, verstärkte Bemühungen bewältigen sollen. Wenn wir als Gesellschaft keine Idee entwickeln, wie wir das lösen wollen, wächst eine Generation Nichtschwimmer heran.
Schwimmbäder werden weniger.
Die Entwicklung in den Kommunen führt weg von kleinen Schwimmbädern hin zu großen Spaßbädern. Das ermöglicht Kindern nicht, Schwimmen zu lernen. Kinder und Familien brauchen Bewegungsangebote vor Ort. Sie brauchen kleine Becken, zu denen sie nach Arbeit und Kita regelmäßig fahren können, am besten mit dem Rad. Wir brauchen qualifizierte Schwimmlehrer. Ertrinken ist eine ganz schlimme Todesart. Aber eine vermeidbare.
Verstehen Politik und Gesellschaft die Not?
Niemand konnte die Pandemie vorhersehen. Aber wir müssen zusehen, dass wir uns jetzt um diejenigen, die dafür am allerwenigsten können, unsere Kinder und Jugendlichen, kümmern. Sie hat es mit am Härtesten getroffen. Kinder haben ein Recht darauf, gesund aufzuwachsen. Wir brauchen eine Nationale Strategie für Sport und Bewegung. Das wird es nicht zum Nulltarif geben. Aber Zeit und Geld sollte uns die Zukunft unserer Gesellschaft wert sein.
Das Gespräch führte Michael Reinsch.
Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Sonntag. dem 26. Mai 2012
„Für das Erlernen motorischer Grundlagen gibt es ein goldenes Lernalter, das sich nicht einfach verschieben lässt.“
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