Für die Bewältigung der Corona-Krise ist unbedingtes Zusammenhalten entscheidend.- Bild: istock/Imagesines - Universität Zürich - UZH
Solidarität, diese wankelmütige Gefährtin – In Krisen wie der aktuellen steht sie hoch im Kurs: die Solidarität – Universität Zürich – UZH – Thomas Gull
Doch solidarisch zu sein, fällt uns schwer, es über längere Zeit zu bleiben, noch mehr, sagen der Soziologe Heiko Rauhut und der Psychologe Johannes Ullrich.
Allenthalben und auf allen Kanälen erklingt jetzt das Hohelied auf die Solidarität und alle, die solidarisch sind. Denn sie ist wichtig und kostbar und so, wie es scheint, der Schlüssel zur Bewältigung der Probleme, die das Coronavirus verursacht.
Solidarisch wird uns aktuell und in Zukunft einiges abverlangt: Wir sollten uns distanzieren, zu Hause bleiben, die Hände nicht schütteln, sondern waschen, Freunde nicht umarmen, sondern mit ihnen nur via digitale Medien interagieren. Und solidarisch werden wir wohl auch die Trümmer wegräumen müssen, wenn wir das Coronavirus dereinst aus dem Feld geschlagen oder zumindest so weit neutralisiert haben, dass wir ohne allzu grosse Einschränkungen damit leben können.
Das gilt vor allem für den finanziellen Schaden, der unser Gemeinwesen noch über Jahre belasten wird.
Solidarisch zu sein, hat damit gerade so etwas wie eine existenzielle Dimension erhalten. Dabei, das machen der Soziologe Heiko Rauhut und der Psychologe Johannes Ullrich klar, ist die Solidarität eine wankelmütige Gefährtin. Das ist so, weil sie uns «kognitiv überfordert», wie Ullrich feststellt, und es eigentlich «ein evolutionäres Wunder» ist, dass wir solidarisch sind, so Rauhut.
Kognitiver Kraftakt
Solidarisch zu sein, fällt uns nicht leicht. Das hat damit zu tun, argumentiert Psychologe Johannes Ullrich, dass Solidarität einen kognitiven Kraftakt voraussetzt. Denn um solidarisch zu sein, müssen wir Muster erkennen. Im konkreten Fall von Corona das Muster, dass es notwendig ist, sozial auf Distanz zu bleiben, wenn die Ausbreitung des Virus eingedämmt werden soll. Und dies, obwohl uns gar nicht danach ist und wir lieber uneingeschränkt arbeiten und feiern würden, wie wir es gewohnt sind.
Das heisst, wir müssen die Einzelfallperspektive überwinden und das grosse Ganze in den Blick nehmen. «Eine Sisyphus-Aufgabe» sei das, diagnostiziert Ullrich. Denn es bedeutet viel Schweiss ohne Preis. «Lerntheoretisch spricht alles dagegen, dass wir es schaffen, das richtige Muster nicht nur zu erkennen, sondern uns auch entsprechend zu verhalten», sagt der Professor für Sozialpsychologie an der UZH. Das liegt daran, dass wir nicht belohnt oder kaum belohnt werden, wenn wir das «Richtige» tun.
Befriedigen wir jedoch unsere unmittelbaren Bedürfnisse – einen Abend mit Freunden verbringen oder am See flanieren –, feuern die Synapsen des Belohnungszentrums in unserem Gehirn aus allen Rohren. Diese Belohnung wirkt sich verstärkend auf das Verhalten aus (bitte mehr davon, wird uns zugeraunt). Gleichzeitig «versinkt das erstrebenswerte Muster der Enthaltsamkeit zum Wohl aller im geistigen Nebel», sagt Ullrich.
Solidarisch zu sein in Zeiten von Corona, bedeutet, die Erfüllung der eigenen Bedürfnisse zu verschieben, manchmal auf unbestimmte Zeit. «Dabei handelt es sich psychologisch betrachtet um einen Belohnungsaufschub», erklärt Ullrich. Diese Art von Weit- und Einsicht fällt uns schwer. Das hat damit zu tun, «dass wir von Natur aus kurzsichtig sind. Unsere hüpfende Aufmerksamkeit ist auf die Anforderungen im Hier und Jetzt ausgerichtet, und nicht auf Dinge, die irgendwann in der Zukunft passieren könnten.» Oder auch nicht. Deshalb fällt es uns schwer, Belohnungen aufzuschieben. Seien das die berühmten Marshmallows, die Kinder vorgesetzt wurden, um zu testen, ob sie die sofortige Befriedigung ihrer Bedürfnisse (den Marshmallow zu essen) für einen künftigen Gewinn (später zwei davon zu bekommen) zurückstellen, oder der Verzicht auf eine Geldsumme, mit der Aussicht, später eine grössere zu erhalten.
Solidarisch zu sein, ist ein mentaler Kraftakt. Nicht nur aus der Sicht des Psychologen, sondern auch aus der des Soziologen. Denn Solidarität, eine Form von Kooperation, verlangt uns Opfer ab, jedem Einzelnen, im Interesse des Gemeinwohls. Das Problem dabei: Die Opfer erscheinen dem Einzelnen relativ gross, etwa wenn er darauf verzichten soll, in die Ferien zu fliegen, um das Klima zu schonen, während der tatsächliche Beitrag an die Verminderung der Klimaerwärmung nur marginal ist. «Jeder macht für sich eine Güterabwägung zwischen dem Opfer, das er oder sie bringen muss, und dem Nutzen, der dadurch gestiftet wird», sagt Soziologieprofessor Heiko Rauhut. Das kann dazu führen, dass uns der Preis als zu hoch erscheint und wir nicht mitmachen.
Doch Wirkung entfaltet der individuelle Verzicht erst, wenn er von vielen geleistet wird. Eine weitere potenziell problematische Eigenschaft von Solidarität ist ihre Interdependenz, ihre Abhängigkeit vom Verhalten der anderen. Menschen sind bereit, solidarisch zu sein. Doch ob und in welchem Ausmass, hängt stark davon ab, wie sich der Rest der Herde verhält. Rauhut: «Wir beobachten die anderen: Wenn sie sich an die Regeln halten, sind wir bereit, das auch zu tun.»
Umgekehrt gilt: Wenn sich die anderen drücken, werden wir auch nicht solidarisch sein. «Deshalb sind Vorbilder wichtig», sagt Rauhut, «die Aufrufe von Prominenten, wegen Corona zu Hause zu bleiben, waren sicher hilfreich.»
Gegen unsere Natur
Weniger hilfreich hingegen ist, wenn man einen wie Trump als Leithammel hat, der mit seinem Verhalten und seinen Tweets alle gut gemeinten Appelle unterminiert. Denn die Bereitschaft zur Kooperation, auf der Solidarität beruht, ist ein fragiles Pflänzchen, auch weil sie eigentlich unserer Natur widerspricht, wie Rauhut erklärt:
«Solidarisch zu sein, bedeutet, anderen etwas zu geben, das man selber gut gebrauchen könnte.» Früher war das vielleicht ein Stück fettes Fleisch, in den Zeiten von Corona ist es der Verzicht auf Geselligkeit – auch ein existenzielles menschliches Bedürfnis. Wegzugeben, was man selber braucht, ohne dafür eine Gegenleistung zu erhalten, ist ein Luxus, den wir uns eigentlich gar nicht leisten können. «Wenn sich alle Individuen einer Art immer uneigennützig verhielten, würde sie aussterben.» Deshalb, so Rauhut, ist es ein «evolutionäres Wunder, dass wir Menschen kooperieren».
Und: Unsere Kooperation, unsere Solidarität beruht meist auf Reziprozität, auf Gegenseitigkeit, wie du mir, so ich dir. Dabei handelt es sich oft um langfristige, strategische Formen von Zusammenarbeit, in der Familie, am Arbeitsplatz oder in der Nachbarschaft: Wenn ich heute meiner Kollegin helfe, wird sie das das nächste Mal für mich tun. Klar: Mit solidarischen, kooperativen Menschen lebt und arbeitet man lieber zusammen als mit Egoisten. Deshalb kann es sich lohnen, als solidarisch zu gelten.
Doch selbst wenn wir uns in den leuchtenden Farben des Altruismus präsentieren: Tief drin sind wir Rappenspalter, die sich genau überlegen, was sie geben und im Gegenzug dafür erhalten. «Die Forschung zeigt sehr gut, dass wir zwar sehr wohl bereit sind, mitzumachen, wenn das gefordert wird», sagt Rauhut, «doch gerne etwas weniger als die anderen.» Dieser Mechanismus hat es in sich – er kann auch dazu führen, dass Solidarität rasch in sich zusammenfällt. Wenn wir beobachten, dass andere weniger tun und wir dann auch wieder etwas weniger tun.
Kontraproduktive Bussen
Was kann getan werden, um die Solidarität über längere Zeit aufrechtzuerhalten? Psychologe Ullrich und Soziologe Rauhut haben darauf zwei Antworten, die in die gleiche Richtung gehen: «Es braucht Regeln, die für alle verbindlich sind», sagt Ullrich. Und: «Strafen, oder die Androhung von Strafen, können helfen, alle bei der Stange zu halten», sagt Rauhut. Gleichzeitig weist er darauf hin, dass Strafen auch kontraproduktiv sein können. Weil sie die intrinsische Motivation untergraben, das heisst unseren eigenen Antrieb, solidarisch zu sein.
Aus der Forschung kennt man das Phänomen «a fine is a price», das bedeutet: Eine Busse ist der Preis, den man dafür bezahlen muss, dass man sich nicht an die Regeln hält. Rauhut erzählt das Beispiel eines Kindergartens, wo die Kinder oft zu spät abgeholt wurden. Darauf wurden die verspäteten Eltern gebüsst. Das Ergebnis: Die Eltern kamen noch häufiger zu spät. Die Busse war für sie der Preis, den sie dafür bezahlen mussten, etwas länger im Büro zu bleiben. «Im Effekt war die Busse also kontraproduktiv. Sie hat das unerwünschte Verhalten noch verstärkt», sagt Rauhut.
Es will deshalb gut überlegt sein, wie Verstösse gegen das Solidaritätsgebot bestraft werden und wie hoch das Strafmass ausfällt. Deshalb sei es auch gut und richtig, wenn die Polizei zuerst das Gespräch suche mit jenen Leuten, die sich nicht an die Corona-Vorschriften halten, findet Rauhut. Das Gleiche gilt für die Kommunikation der Behörden in der Corona-Krise: Mit Appellen arbeiten, transparenten und rationalen Argumenten, die Bevölkerung mit an Bord und in die Verantwortung nehmen, sei der richtige Weg. «Das funktioniert in einer demokratischen Gesellschaft besser als rigide Verbote.»
Die Frage ist, ob von der doch beträchtlichen Solidarität, die wir in Zeiten von Corona an den Tag legen, etwas bleibt, wenn die Krise vorbei ist. «Vielleicht», so Johannes Ullrich, «haben wir ja tatsächlich etwas gelernt – dass wir ein gemeinsames Ziel erreichen können, wenn sich jeder zusammenreisst und vorübergehend auf die Befriedigung seiner Bedürfnisse verzichtet.»
Gemeinsame Ziele verbinden
Solidarisch zu sein, ist eigentlich gegen unsere Natur. Trotzdem hat die Corona-Krise gezeigt, dass wir ein gemeinsames Ziel erreichen können, wenn wir bereit sind, zum Wohle aller vorübergehend auf die Befriedigung unserer Bedürfnisse zu verzichten.