Gina Lückenkemper nach ihrem Erfolg bei der EM 2018 in Berlin - Die „westfälische Blondine“ Gina Lückenkemper nicht nur „schnell und jung, sondern auch hübsch, intelligent und ein bisschen frech“ ! Foto: Horst Milde
Silber für Gina Lückenkemper : „Das ist einfach der Wahnsinn“ – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Die Leichtathletik-EM in Berlin erlebt einen hinreißenden Auftakt. Gina Lückenkemper sprintet zurm Medaille über 100 Meter. Da kommen ihr gar die Tränen. Doch das soll noch nicht alles gewesen sein.
Der Traum von drei Goldmedaillen für die deutschen Leichtathleten zum Auftakt der Europameisterschaft im Berliner Olympiastadion hat sich nicht erfüllt.
Doch die 21 Jahre alte Gina Lückenkemper und der 28 Jahre alte Kugelstoßer David Storl rissen die knapp 35 000 Zuschauer am Dienstagabend mit ihrem Einsatz hin. In 10,98 Sekunden gewann die Sprinterin aus Soest in Westfalen die Silbermedaille über hundert Meter hinter der Britin Dina Asher-Smith, die nach 10,85 Sekunden im Ziel war.
Als sie die niederländische Titelverteidigerin Daphne Schippers (10,99) und die Schweizerin Mujinga Kambundji (11,05) hinter sich gelassen hatte, brach Lückenkemper unter dem Jubel des Publikum in Tränen des Glücks aus: „Das ist einfach der Wahnsinn“, jubelte Lückenkemper am Stadion-Mikrofon. „Ich habe jede Sekunde einfach genossen. Das ist ein unfassbar emotionaler Moment für mich“, fügte sie später aufgeregt vor den Fernsehkameras an: „Man kann sich das noch so oft vorstellen, in der Realität ist alles anders.“ Sie sei „überglücklich“.
Das ließ sich von David Storl nicht wirklich behaupten. Für ihn war Platz drei nach dem Gewinn von drei Europameisterschafts-Titeln hintereinander einerseits eine Niederlage. Doch mit seiner Rückkehr aus zwei Jahren, die von Verletzung und Schmerz geprägt waren, gab der 1,98 Meter lange Sachse seiner sportlichen Karriere immerhin einen neuen Impuls, der ihn zu dem Olympischen Spielen 2020 nach Tokio führen soll. Im ersten Durchgang als Letzter dran, übernahm Storl mit einem Stoß von 21,41 Meter die Führung.
Doch kaum hatte er die Weite mit stolzem Muskelspiel gefeiert, übertraf sie Michal Haratyk, der Jahresbeste Europas, um 31 Zentimeter. Auch dessen polnischer Landsmann Konrad Bukowiecki stieß weiter als Storl. Dabei blieb es, obwohl der Deutsche das Publikum zu lautstarker Unterstützung animierte, aber nur zwei gültige Versuche hatte: Mit 21,72 und 21,66 Meter siegten die Polen, für den Titelverteidiger blieb die Bronzemedaille. „Das Niveau war sehr hoch“, sagte Storl anschließend: „Ich wollte noch kontern, habe mich aber ein bisschen festgefahren.“
David Storl holt sich Rat – Foto: Horst Milde
Alle drei Sprinterinnen werden im Staffelrennen an diesem Sonntag im Olympiastadion zurückerwartet. „Alle Staffel-Mädels waren beim Finale im Stadion und haben mich beglückwünscht. Nun wollen wir gemeinsam am Sonntag das Stadion rocken“, sagte Gina Lückenkemper. „Wenn ich an die Atmosphäre denke, schießen mir gleich wieder die Tränen in die Augen.“ Den Sprint der Männer gewann der Brite Zharnel Hughes in 9,95 Sekunden, eine Hundertstel vor seinem Landsmann Reece Prescod (9,96). Platz drei erreichte der aus Kuba stammende Türke Jak Ali Harvey in 10,01 Sekunden.
Richard Ringer aus Friedrichshafen, schnellster 10 000-Meter-Läufer des Jahres und selbsterklärter Favorit auf den Titel über diese Distanz, konnte seine Erwartungen nicht erfüllen. Acht Runden vor Schluss gab er das Rennen mit einem freundlichen Gruß zur Haupttribüne auf. „Eigentlich gibt man nicht auf, aber man muss schlau sein“, sagte Ringer. Er will in Berlin noch den 5000-Meter-Lauf bestreiten. Der Franzose Morad Amdouni, beim Europa-Cup in London im Mai Zweiter hinter Ringer, siegte in 28:11,22 Minuten vor dem Belgier Bashir Abdi (28:11,76) und dem Italiener Yemaneberhan Crippa (28:12,15). „Der Körper war relativ früh überhitzt“, sagte Ringer. „Der Sauerstoff kam nicht in den Beinen an.“
Nach der ersten Runde: Richard Ringer ( Sechster v.r.) – Foto: Horst Milde
32 Teilnehmer hatten am Start gestanden, und Ringer hielt sich, als Spanier und Türken Tempo machten, an zweistelliger Position. Nach zwölf Runden riss das Feld hinter den ersten zehn auseinander, zu denen auch Amanal Petros aus Brackwede gehörte, und Ringer musste versuchen, die Lücke schließen – was ihm nicht gelang. Als er dann auch noch ausscherte, um sich eine Wasserflasche zu greifen, war das Rennen für den 29 Jahre alten Schlaks vom Bodensee praktisch beendet. Eine halbe Runde joggte er noch, dann war Schluss.
Richard Ringer trabt nur noch hinterher – Foto: Horst Milde
An der Spitze stieg gleichzeitig der türkische Titelverteidiger Polat Kemboi Arikan aus – auch er Opfer des türkischen Tempomachers Kaan Kigen Özbilen, wie er gebürtiger Kenianer. Petros hielt länger mit, aber: „Die letzten zweitausend Meter waren zu viel für mich.“ In 29:01,19 Minuten kam er auf Platz 16.
Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Mittwoch, dem 8. August 2018
Michael Reinsch Korrespondent für Sport in Berlin.