Julien Wanders (Stade Genève/5000 m) - 019 Ras Al Khaimah Half Marathon Ras Al Khaimah, UAE February 8. 2019 Photo: Victah Sailer@PhotoRun
Schweizer Laufszene 2020: Von himmelhoch bis abgrundtief – Heinz Schild berichtet
Aufstieg, Blüte, Prosperität – so lässt sich das goldene letzte Jahrzehnt zusammenfassen. Die Schweiz, und nicht nur sie, erlebte in der Laufszene eine im Breitensport nie dagewesene Entwicklung.
Doch dann kommt das verheissungsvolle Jahr 2020: Die Corona-Epidemie bringt in der Running-Szene Stillstand, Abschwung, Depression, drohende Konkurse. Veranstalter sorgen sich um die Zukunft, viele Läuferinnen und Läufer fühlen sich isoliert, demotiviert und sehnen sich, auch heute, zu Beginn der Saison 2021, nach Wettkämpfen, nach Normalität.
Doch es gibt auch viele Glanzpunkte in der verkorksten Leichtathletik-Saison 2020. Da ist Julien Wanders, der 24-jährige Europarekordhalter auf der Halbmarathon-Distanz. Am 12. Januar 2020 hat er in Valencia seinen grossen Auftritt, wird Dritter im top-besetzten 10 km-Rennen hinter dem Weltrekord laufenden Rhonex Kipruto KEN (26:24) und dessen Landsmann Bernard Kimeli (27:12). Wanders’ Zeit: 27:13, wieder Europarekord, zum dritten Mal in Folge!
Begonnen hat seine 10-km-Erfolgsserie im Oktober 2008 beim City Surf Run in Durban, als er Mo Farah, dem vierfachen Olympiasieger den 10-km-Europarekord abjagte und auf 27:32 senkte. Der Genfer, der seinen Trainings- und Lebensmittelpunkt nach Kenia verlegte, bewegt sich 2021 in neuem Umfeld. So hat er einen Wechsel im Trainer-Team vorgenommen. Von Marco Jäger («ohne ihn wäre ich nicht da, wo ich jetzt bin») zum Italiener Renato Canova, der wie Wanders in Iten KEN doziert. Jäger will sich aus beruflichen Gründen entlasten, bleibt aber als Berater im Wander-Team. Obschon der zweifache Europa-Rekordhalter seine Bestzeiten auf der Strasse erzielt hat, setzt er in der Olympia-Saison auf die Bahn. Der erste Marathon soll «mittelfristig» folgen, will heissen nach Tokyo.
Auf der 42-km-Distanz hat nach wie vor Tadesse Abraham das Sagen. Sein Landesrekord von 2:06:40 liegt zwar schon fast fünf Jahre zurück. Der Halbmarathon-Europameister von 2016 und EM-Zweite von Berlin 2018, hat im April 2019 als Zweiter des Wien-Marathons mit 2:07:24 die Olympia-Norm deutlich unterboten und kann sich sorgfältig auf Tokyo vorbereiten. Wie die ‘Sonntags-Zeitung’ in der jüngsten Ausgabe berichtet, liess Abraham den Adidas-Vertrag auslaufen und setzt neu auf den in der Schweiz entwickelten ON-Schuh. Seit Ende Dezember trainiert er in Sululta, 20 km nördlich von Addis Abeba auf einer Höhe von 2800 m. Allerdings muss er, gemäss Verband, bis zum 30. April noch einen Leistungsausweis vorlegen.
Swiss Athletics hat eigens einen Qualifikations-Marathon angesetzt, der am 14. März auf einer homologierten Strecke rund um den Flughafen Bern-Belp auf einem offiziell vermessenen Parcours stattfinden soll. «Weil es sich nicht um eine internationale Veranstaltung handelt, wollen wir die Spitzenleute mit Pace-Makern unterstützen», sagte Leistungssportchef Philipp Bandi am Montag dieser Woche.
Mit dabei sein will auch Fabienne Schlumpf, die EM-Zweite von Berlin 2018 über 3000m Steeple (9:22.29) und neue Schweizer Rekordhalterin im Halbmarathon (1:08:38, WM 2000 in Gdynia). Sie befindet sich im Trainingslager in Portugal und will am 14. März nicht nur ihr Marathon-Debut geben, sondern sich auch gleich für Tokyo empfehlen. Die Limite ist auf 2:29:30 angesetzt… Sicher ist: Die 1.83m grosse Läuferin dürfte zur vielseitigsten Schweizer Spitzenläuferin avancieren, mit einer Wettkampfpalette die von 800m bis zum Marathon reicht. «Der Fokus gehört nun der Strasse», meint sie ziel- und selbstbewusst.
Schlumpf könnte auf der Marathonstrecke Nachfolgerin von Maja Neuenschwander (2:26:49) werden, welche kürzertreten will und bei Swiss Olympic eine interessante Stelle als Leiterin des Projekts «Frau und Spitzensport» angetreten hat.
Fabienne Schlumpf – Foto: Swiss Athletics
Bundeshilfe für die Leichtathletik
So trist die Saison in den Stadien begonnen hat, so versöhnlich, ja fast brillant hat sie geendet. Mit Ajla Del Ponte aus dem Tessin, der schnellsten Europäerin über 100 m und dem erst 20-jährigen Zehnkämpfer Simon Ehammer, der mit 8231 Punkten nur knapp den Landesrekord verfehlte, wurden zwei Sympathieträger zu den «Leichtathleten des Jahres» erkoren.
Dank dem sog. «Stabilisierungsprogramm des Bundes» zur Linderung der Covid-19-Schäden, dem grössten Hilfsprojekt im Schweizer Sport, konnte nicht allein Swiss Athletics vom 7,69 Millionen Unterstützungspaket profitieren, sondern ebenso die Vereine (Stadion-Leichtathletik) und die Veranstalter der Lauf-Events, inklusive Berglauf- und Trail-Szene und so den finanziell erlittenen Schaden entscheidend verringern.
Running-Szene im Herz getroffen
Fünfzig Jahre lang hat sich die Breitensport-Erfolgsspirale unaufhörlich nach oben bewegt. Jahr für Jahr konnten im Sog des Running-Booms immer wieder neue Rekordwellen registriert werden. Bis Corona aus den Wellen ein Rinnsal machte. Abgrundtief sind die Teilnehmerzahlen gesunken. Verschiedene Organisatoren boten virtuelle Läufe an, andere versuchten es mit «Corona-gerechten», innovativen Alternativen, die von den Aktiven mit grossem Lob bedacht wurden. Aber auch diese vereinten Anstrengungen änderten nur wenig am Gesamtbild. Immerhin: Auf Initiative von Swiss Athletics konnten im Oktober mit vereinten Kräften noch die Schweizer Berglaufmeisterschaft in Adelboden nachgeholt werden, ebenso die Halbmarathon SM in Bern-Belp.
Doch die Zahlen verdeutlichen die aktuelle Situation:
Über eine halbe Million Läuferinnen und Läufer wurden 2019 bei den 200 grössten Veranstaltungen der Schweiz gezählt. 2020 waren es knapp 80’000. Krass ebenfalls die Vergleichswerte bei den Top-50 Events: 2019 weist die Statistik 357’300 Teilnehmende aus; 2020 waren es gerade mal 18’400, das Minus beträgt 94,5 Prozent.
Ein Bruchteil der Veranstaltungen konnte mit Schutzkonzepten und neuen Formaten am Leben gehalten werden. Andere resignierten und wollen 2021 einen neuen Anlauf nehmen. Doch es dürfte Sommer werden, bis die Sonne endgültig wieder lacht.
Heinz Schild
Schweizer Laufszene 2019 – Julien Wanders, der Schweizer Leuchtturm – Heinz Schild berichtet
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