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2018

Bodo Tümmler (lks.) und Kip Keino vor seiner Farm in Kenia 2009 - Foto: Horst Milde

Olympia 1968: Afrikaner laufen den Kolonialmächten davon – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

By GRR 0

Die Olympischen Spiele von Mexiko brachten auch die Entdeckung der afrikanischen Laufwunder. Kip Keino und Co. schüttelten die Unterdrücker ab.

Die afrikanische Leichtathletik ist jünger als die der Alten Welt. Gewiss, gelaufen und gesprungen ist Homo sapiens vermutlich auf diesem Kontinent zuallererst. Doch noch im zwanzigsten Jahrhundert, als die von Coubertin neu erfundenen Olympischen Spiele schon Jahrzehnte alt waren, florierten in Europa und in Deutschland Völkerschauen und Kolonialausstellungen, auf denen Menschen aus Afrika vorgeführt wurden, nicht selten im Zoo.

Als Boughera El Ouafi und Alain Mimoun Olympiasieger im Marathon wurden, der eine in Amsterdam 1928, der andere in Melbourne 1956, vertraten sie nicht ihr Heimatland Algerien, sondern die Kolonialmacht Frankreich.

Kipchoge „Kip“ Keino, Olympiasieger über 1500 Meter von Mexiko 1968 und über 3000 Meter Hindernis von München 1972, stand immer für sein unabhängiges Heimatland Kenia – und für sich. Denn so wie er sich, Halbwaise aus der Provinz, einen Posten bei der Polizei erkämpfte und sich als einer der stärksten und bekanntesten Läufer der Welt etablierte, gelang ihm auch der gesellschaftliche und wirtschaftliche Aufstieg. Drei Farmen bewirtschaftete er gleichzeitig, betrieb ein Sportgeschäft und reiste für das Internationale Olympische Komitee (IOC) und den Weltverband der Leichtathleten (IAAF) um die Welt.

Er war Mitglied des IOC und Präsident des Nationalen Olympischen Komitees von Kenia. Auf dem weitläufigen Areal seiner Farm Kazi Mingi bei Eldoret betreibt er bis heute ein internationales Leistungszentrum für Läufer und eine Schule mit Internat. Sein Engagement für Waisen und Flüchtlinge, für Arme und Benachteiligte ist beeindruckend, seine phänomenale Härte im Training und im Rennen wie seine Freundlichkeit und Bescheidenheit im Gespräch haben Abertausende über die Grenzen Kenias hinaus inspiriert.

Von Räubern eskortiert

Kipchoge Keino lief an der Spitze einer Bewegung, die eine Branche, fast eine Industrie geworden ist. Eine umgekehrte Kolonialisierung nannte der britische Journalist Pat Butcher die daraus erwachsene Dominanz Ostafrikas. Tausende Läuferinnen und Läufer aus Kenia leben vom Laufen, noch mehr hoffen auf die Chance, im Ausland starten zu dürfen – als Ikonen an der Spitze einer unermüdlichen Laufbewegung, als Sieger und Tempomacher bei Volksläufen auf der ganzen Welt, als Sportstipendiaten in den Vereinigten Staaten, als Neubürger im Nationaltrikot von Bahrein, Kuweit und der Türkei.

Die beiden eskortierten daraufhin Keino zu seinem Ziel. Zur spektakulärsten Gelegenheit, über die Olympia verfügt, während der Eröffnungsfeier der Sommerspiele, zeichnete IOC-Präsident Thomas Bach in Rio de Janeiro 2016 Keino mit dem neu geschaffenen und seitdem nicht mehr vergebenen Preis „Olympischer Lorbeer“ aus. Bach und Keino sind Weggefährten, seit Samaranch sie beim Olympischen Kongress in Baden-Baden 1981 in die erste Athleten-Kommission des IOC berief.

Mit nun 78 Jahren ist Keino von einer Krankheit gezeichnet, unter der sein Land und sein Kontinent leiden. Er gehört zu sieben Angeklagten, denen wegen Korruption im Zusammenhang mit der Unterschlagung von Sponsorleistungen vor den Olympischen Spielen von Rio 2016 in Kenia der Prozess gemacht werden soll. Persönliche Bereicherung mag man sich bei diesem Mann, der stets über den Dingen zu stehen schien, nicht vorstellen. Doch er war verantwortlich für eine Organisation, die von Gier zerfressen schien.

Dreimal täglich Training

Der Endlauf über 1500 Meter am Schlusstag der Leichtathletik-Wettbewerbe vor fünfzig Jahren zeigte die Fähigkeit Keinos und das Selbstbewusstsein, das ihm daraus erwuchs. Im Besitz der Weltrekorde über 3000 (7:39,6 Minuten) und 5000 Meter (13:24,2) angereist, hatte der erste „world beater“ seines Landes im ersten Wettbewerb einen überraschenden Rückschlag hinnehmen müssen. Er stand die 10.000 Meter nicht durch. Über 5000 Meter, die Strecke, auf der er bei den Spielen von Tokio 1964 in der ersten Mannschaft des unabhängigen Kenias Fünfter geworden war, biss er sich durch. Doch im langen Endspurt musste er sich dem Algerier Mohamed Gamoudi geschlagen geben und gewann vor seinem Landsmann Naftali Temu, dem Olympiasieger über 10.000 Meter, der im Marathon Zweiter werden sollte, die Silbermedaille.

Wegen starker Schmerzen und Unwohlseins stellte sich der allseits beliebte Kip dem deutschen Mannschaftsarzt Joseph Keul vor. Dieser riet von weiteren Starts ab. Keino litt an einer Entzündung der Gallenblase, ausgelöst von Gallensteinen. Der 28-Jährige schlug die Warnungen in den Wind. Was für ein harter Bursche er war, hatte er dem deutschen Trainer Paul Schmidt beschrieben, als dieser ihn nach seinem Pensum befragte. Dreimal täglich trainiere er, sagte Keino, einen Trainer habe er nicht. Was er wusste, hatte er von einem britischen Polizeioffizier gelernt.

Um es über 1500 Meter nicht zu einem Endspurt mit seinem amerikanischen Konkurrenten Jim Ryun kommen zu lassen, der den Weltrekord (3:33,1 Minuten) hielt, ließ Keino seinen jungen Mannschaftskameraden Ben Jipcho vom Start weg ein hohes Tempo anschlagen. Das Feld riss auseinander, Keino brauchte mehr als eine Runde, um sich zu seinem entfesselten Tempomacher vorzukämpfen. Und als Jipcho nachließ, zwei Runden vor Schluss, legte Keino zu.

Mit schmerzverzerrtem Gesicht und fast drei Sekunden Vorsprung spurtete er ins Ziel (3:34,9 Minuten). Ryun wurde Zweiter vor den beiden Deutschen Bodo Tümmler und Harald Norpoth. Später erzählte Keino, dass er das Rennen fast verpasst hätte, weil der späte Bus vom Olympischen Dorf im Stau stecken blieb. Der Champion joggte ins Stadion.

Marathonläufer Ken McArthur ist 1912 in Stockholm der erste Olympiasieger und Hochspringerin Esther Brand ist in Helsinki 1952 die erste Olympiasiegerin Afrikas. Beide vertraten Südafrika und dessen Apartheidsystem, das allein Weißen den Start in der Nationalmannschaft erlaubte. Erst seit Abebe Bikila in Rom 1960 als Leibgardist des Kaisers barfuß durch die Straßen der Ewigen Stadt rannte und in jenem Land siegte, das Äthiopien überfallen und besetzt hatte, liefen die Athleten Afrikas auch für einen Kontinent, der seine Unterdrücker abschüttelte. Athleten aus Kenia, Äthiopien und Tunesien wurden in Mexiko Olympiasieger.

Die Höhenluft half

Die Lage von Mexiko-Stadt in 2240 Meter Höhe wirkte sich besonders bei den langen Läufen auf die Ergebnisse aus. Wer unvorbereitet aus dem Flachland in die dünne Luft kam, dem blieb buchstäblich die Puste weg. Auch dies trug zum durchschlagenden Erfolg der afrikanischen Läufer bei, insbesondere derer, die aus dem Hochland im Osten stammten, aus Kenia und Äthiopien. Mexiko etablierte das Höhentraining: Wer in einer Umgebung mit einem geringeren Sauerstoff-Partialdruck trainiert und regeneriert – in Bergregionen oder in einer Unterdruckkammer –, steigert die Zahl seiner roten Blutkörperchen und verbessert die Sauerstoffversorgung von Kopf und Muskeln. Dieser Effekt wird im Sport nicht nur zur Anpassung genutzt, sondern auch zur Leistungssteigerung im Flachland.

Frauen wurden Distanzen jenseits von zwei Runden im Stadion nicht zugetraut, nicht einmal im Gehen. In der olympischen Leichtathletik des Jahres 1968 gab es 24 Wettbewerbe für männliche Athleten und nur halb so viele für weibliche. Die These von der Höhenluft war den Autoren des Olympia-Buches aus der DDR zu dünn. „Dümmliche Zeitungsschreiber des Westens“, schrieben sie. „Sie wollen einfach nicht eingestehen, dass der Sport in den von Ausbeutung befreiten afrikanischen Nationalstaaten einen ungeheuren Aufschwung genommen hat, dass jahrzehntelang verschüttete Potenzen freigeworden sind, die das Kräfteverhältnis in der Welt des Sports entscheidend zu verändern vermögen“, heißt es im DDR-Buch „Olympia 1968“. „Das und nur das ist die Erklärung für die afrikanischen Erfolge auf den langen Strecken in Mexiko.“

Neben dem Höhentraining spielte allerdings Kolonialismus eine Rolle bei der Sportentwicklung. Großbritannien hat mit seinem Schulsystem in Kenia und Jamaika eine Basis für Sport und eine Leidenschaft für Wettkämpfe hinterlassen, wie es sie nirgendwo sonst auf der Welt gibt – auch nicht in Großbritannien.

Mit Kipchoge Keino etablierte sich 1968 Afrika in der Leichtathletik. Der Kenianer Julius Yego wurde 2015 in Peking Weltmeister im Speerwerfen.

Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Mittwoch, dem 17.10.2018

Michael Reinsch

Korrespondent für Sport in Berlin.

author: GRR