Blog
30
12
2018

Emil Zatopek - Finnland 1952 Olympics - Foto: Pat Butcher

Ohne Zatopek kein Run auf Silvesterläufe? Emil und das Manifest der 2000 Worte – Von Klaus Blume

By GRR 0

So einen Tag vergisst man  nicht. Es war der 1. Januar 1953, das Familien-Frühstück vor dem zeitigen Kirchgang. Ich habe meine Eltern bald wahnsinnig gemacht, weil ich in einer Tour quengelte: Ich will jetzt wissen, wer in dieser Nacht den Silvesterlauf von Sao Paulo gewonnen hat.

Wer hat gewonnen?

In einer Zeit, in der das Internet noch nicht erfunden und  private Telefonanschlüsse so gut wie nicht erlaubt waren – wie sollte man so etwas an einem Feiertag erfahren? Vielleicht stehe es ja morgen in der Zeitung, wurde ich sehr bestimmt beschieden. Im „Neuen Weg“, dem von unserer Familie abonnierten Blatt der DDR-CDU, stand es tagsdrauf  dann auch schwarz auf weiß.

Erster der Corrida Internacional de Sao Silvestre: Emil Zatopek (CSSR). Nicht irgendein Läufer, sondern ein Idol; nicht nur in seiner tschechischen Heimat, sondern längst schon auf der ganzen Welt. Denn im Sommer zuvor hatte der Schuhmacher aus Mähren bei den Olympischen Spielen in Helsinki drei Goldmedaillen gewonnen, über 5000 und 10 000 Meter sowie im Marathonlauf.

Der Silvesterlauf von Sao Paulo, zwar seit 1925 veranstaltet, aber in Europa kaum bekannt, bekam durch Zatopeks Triumph urplötzlich eine ganz andere, eine weltweite Bedeutung. Und gilt schon deshalb als der Ur-Silvesterlauf schlechthin.

Vor mir liegt ein Buch, gebunden in grünes  Leinen, abgegriffen, gebraucht. Es trägt den Titel „Der Marathon-Sieger“. Zwölf Monate nach Zatopeks Erfolg in Sao Paulo lag es für mich 1953 auf dem weihnachtlichen Gabentisch; es hat mich seitdem in alle Länder und Städte begleitet, in denen ich gelebt und gearbeitet habe.

„Der Marathon-Sieger“ von Frantisek Kozik – Foto: Verlag

Geschrieben hat dieses Buch Frantisek Kozik, damals bekannt geworden als politischer Journalist, aber auch, weil er von Brünn aus – weniger erfolgreich – vergeblich eine Radio-Sendung in der Kunstsprache Esperanto gestartet hatte.

Beides faszinierte mich damals weniger, als Koziks Aufzeichnungen über Zatopeks Training, bei denen mir als angehender Läufer schon beim Lesen schwindelig wurde: 60 (in Worten. sechzig!) 400-Meter-Läufe als eine Tages-Einheit . . . Noch immer steht in meinem ältesten persönlichen Telefonbuch unter dem Buchstaben „Z“ Emils Prager Telefonnummer – an erster Stelle. Ich habe später viel mit ihm  telefoniert, aber nie wegen seines irrsinnigen Trainingsprogramms.

Es gab ja viel Wichtigeres zu besprechen. Vor allem ab 1968, als in der Nacht vom 20. auf den 21. August Truppen der Warschauer-Pakt-Staaten in die goldene Stadt eingefallen waren, um dem Prager Frühling, dem Hoffnungsschimmer aller Freiheitsliebenden  im kalten Krieg, den Garaus zu machen.

Emil, damals hoher Offizier, eilte am frühen Morgen des 20. August in Zivilkleidung zum legendären Wenzelsplatz, um sich, wie tausende anderer Demonstranten, den russischen Panzern in den Weg zu stellen. Es gab Verletzte – es gab sogar Tote. Aber die Russen blieben.

Also beschloss Emil tagsdrauf, nun in Uniform, auf einen der sowjetischen Panzer zu klettern, und dessen Besatzung in öffentlichen Ansprachen lautstark zu bitten, wieder nach Hause zu fahren. Es blieb nicht bei einem einzigen Auftritt. Aber auch das half nicht.

Emil unterschrieb daraufhin mit vielen bekannten tschechischen Persönlichkeiten und mit drei weiteren Olympiasiegern – seiner Frau Dana, die 1952 als Speerwerferin Gold gewonnen hatte – mit dem großen Skispringer Jiri Raska und der Kunstturn-Legende Vera Caslavska – das berühmt gewordene „Manifest der 2000 Worte“, in dem man sich zu den Grundidealen des Sozialismus bekannte. Und gleichzeitig alle  anprangerte, die den Sozialismus verraten hätten.

Danach wurde es immer schwieriger, mit Emil zu telefonieren, der zur Persona non grata geworden war, sich als Müllmann und Wanderarbeiter durchschlug. Mal hier, mal dort.

1973 telefonierten wir, nach langer Unterbrechung, wieder einmal miteinander, weil Emil zu den Trauerfeierlichkeiten seines großen Idols Paavo Nurmi nach Helsinki eingeladen wurde. Es versetzte ihn in helle Aufregung, denn für ihn waren finnische Läufer ganz und gar außergewöhnliche Persönlichkeiten, so, wie Jahrzehnte später, für uns die Läufer aus Ostafrika. Darüber redeten wir bei den Europameisterschaften 1978 im Prager Rosicky-Stadion.

Denn auf einmal saß Emil dort neben mir, auf einem der offiziellen Presseplätze der Tageszeitung DIE WELT. Ohne Vorankündigung, ohne einen offiziellen Presseausweis, aber mit einem „Fress-Korb“, sorgfältig gepackt von Dana: mit kaltem Gurkensaft, der den Durst hervorragend löschte und mit viel mährischer Salami.

Emil Zatopek – (2. v.lks.) – am Start des BERLIN-MARATHON 1985 mit dem Regierenden Bürgermeister von Berlin Eberhard Diepgen (lks.) – Foto: Sportmuseum Berlin – Marathoneum

Er sei natürlich nicht wegen mir gekommen, brummelte Emil, sondern um den Finnen Martti Vainio über 10 000 Meter siegen zu sehen. Klar, warum sonst, raunzte ich zurück.

Am 11. März 1990 haben sie Emil dann, als einstigen politisch Verfolgten, offiziell rehabilitiert. Als am 21. November 2000 mein Telefon klingelte, hoffte ich insgeheim, er würde sich melden. Denn am Tag zuvor hatte ich einen runden Geburtstag gefeiert. Es war tatsächlich ein Anruf aus Prag.

Ein ehemaliger Kollege, einst bei der Zeitung „Rude pravo“  beschäftigt, sagte mir, Emil sei nach einer schlimmen Lungenentzündung im Militärkrankenhaus Stresovice gestorben. Das von der Regierung vorgeschlagene Staatsbegräbnis habe Dana – wohl im Sinne Emils – abgelehnt.

Klaus Blume
Uhlenhorster Weg 2
22085 Hamburg
Tel: +49 (0) 40 229 7048
Mobil: +49 (0) 171 643 4018
klausblume@t-online.de

author: GRR