Lisa Marie Kwayie - Vom Start weg schneller und als Erste im Ziel - Foto: Horst Milde
Neue deutsche Sprintmeister: Beschleunigt aus dem Lockdown – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Lisa Marie Kwayie und Deniz Almas nutzen die Zeit, die Corona ihnen schenkt. Ihre Titel über hundert Meter sind das Ergebnis harter Arbeit – und des Umschaltens im richtigen Moment.
Die neue Generation ist angekommen. Lisa Marie Kwayie aus Berlin und Deniz Almas von der Schwäbischen Alb, beide 23 Jahre alt, sind hinter verschlossenen Türen im Eintracht-Stadion von Braunschweig deutsche Meister über hundert Meter geworden.
An dem Wochenende, an dem in Tokio die Olympischen Spiele zu Ende gehen sollten, haben die beiden bewiesen, dass das Jahr praktisch ohne Leichtathletik-Saison kein verlorenes war, sondern neue Chancen bot.
Lisa Marie Kwayie musste im Ziel die Anzeige abwarten, um zu realisieren, dass sie gerade in 11,30 Sekunden Meisterin geworden war, so konzentriert war sie ins Rennen gegangen – ihr neu eingeübter Start durfte nicht misslingen. Als ihr Name aufleuchtete, schienen sie und die mit ihr herzlich befreundete Konkurrentin Rebekka Haase (11,34) sich in die Arme fallen zu wollen, doch sie rissen sich zusammen und berührten sich – „Wuhan Shake“ – lachend mit den Füßen.
„Mein allererster deutscher Titel“, sagte die Studentin aus Berlin-Neukölln freudig. Wie Almas nahm sie ihren Sieg bei der deutschen Hallenmeisterschaft in Leipzig vor einem halben Jahr über sechzig Meter offenbar weniger als Erfolg denn als Verpflichtung. „Klar wäre es schöner mit einem Publikum, das mitjubelt“, sagte sie nun über die seitdem drastisch veränderten Bedingungen, die zu einer Meisterschaft im Ausnahmezustand geführt haben. „Andererseits: Dies ist eine Krise. Ich bin froh, dass wir überhaupt Wettkämpfe bestreiten können.“ Nicht nur auf Umarmung und Zuschauer mussten die besten deutschen Leichtathleten verzichten, sondern auch auf die Siegerehrung. Ihre Medaillen holten sich Lisa Marie Kwayie und Deniz Almas, nach der Doping-Probe, wie alle Meister im Wettkampfbüro ab.
„Ich hatte mir fest vorgenommen zu gewinnen“, sagte Almaz. Auch er hatte das Gefühl, seinen Titel aus dem Winter rechtfertigen zu müssen. „Nach der Halle dachten viele: Hinten kommt der eh nicht an; der ist nur 1,75 Meter groß. Sechzig Meter kann er rennen, aber nicht hundert.“ Nur eine Hundertstelsekunde mehr als bei seinem Sprint von Weinheim vor einer Woche brauchte er, 10,09 Sekunden, um seine neu gewonnene Überlegenheit gegenüber dem 21 Jahre alten Talent Joshua Hartmann (10,23) und dem 32 Jahre alten Altmeister Julian Reus (10,26) zu belegen. Kein Läufer ist dem deutschen Rekord, seit Reus ihn vor vier Jahren auf 10,01 Sekunden verbesserte, so nahe gekommen wie Almas innerhalb von acht Tagen.
Unter zehn Sekunden? Deniz Almas gehört zu den Kandidaten
Die beiden Champions im kürzesten und spektakulärsten Wettbewerb jeder Meisterschaft haben Lockdown und Verschiebung der Olympischen Spiele optimal genutzt. Während viele Ältere sich eine Pause gönnen, um hartnäckige Verletzungen auszukurieren oder den Kopf frei zu bekommen, und dabei aus dem Tritt geraten wie Hürdensprinterin Pamela Dutkiewicz, die im Halbfinale in eine Hürde trat und ausschied. Oder auf Grundlagentraining umschalteten wie Europameisterin Gesa Krause, die, aus dem Höhentraining in Davos in die Hitze Braunschweigs gereist, von 3000 Meter Hindernis lediglich 2000 durchstand. Sie musste mit leeren Beinen, wie sie klagte, und ratlos aufgeben. Wer von irregulären Bedingungen durch die unterschiedlichen Regelungen im föderalen Deutschland hören wollte, dem gab Dreisprung-Meisterin Maria Purtsa aus Chemnitz (13,65 Meter) ein Stichwort.
Corona-Lockdown bedeutete für sie: sieben Wochen Training auf Feldwegen.„Bei vielen herrschte nach der Absage der Europameisterschaft und der Verschiebung der Olympischen Spiele, als unklar war, ob es überhaupt noch Wettkämpfe geben wird, Orientierungslosigkeit“, konstatierte Idris Gonschinska der Generaldirektor des Deutschen Leichtathletik-Verbandes. „Einige haben ihren Fokus verloren, und einige haben ihren Fokus gefunden wie Lisa Marie und Deniz. Sie waren optimistsch und unbeschwert und haben ihre Chance genutzt.
Die kommenden Sprint-Champions intensivierten und verfeinerten ihr Training. „Für mich war das eigentlich das Beste, was passieren konnte“, erzählte Almas. „Klar gab es ein Motivationstief, nachdem alles abgesagt war. Aber dann haben wir die Möglichkeit gesehen, dieses Jahr ganz ohne Druck anzugehen, hart zu arbeiten und den Rückenwind aus dieser Saison zu nutzen, um eine Super-Vorbereitung für die Olympischen Spiele zu machen.“ Er trainierte statt in der Halle oder auf einem Feldweg auf einem Sportplatz weiter.
„Einer von uns Jungen wird eine solche Zeit laufen“
Wie schnell Almas lernt, zeigt die Frage nach einer Zeit unter zehn Sekunden, nach der Neun vor dem Komma, von dem er weniger als eine Zehntelsekunde entfernt ist. Er sei ein Kopfmensch, sagte er vor wenigen Tagen noch abwehrend, und verkrampfe womöglich, wenn er sich ein solches Ziel setze. Nun teilt er souverän die Last: „Einer von uns Jungen wird eine solche Zeit laufen.“
Wie Almas vor allem am Schluss seines Laufes arbeitete, veränderte Lisa Marie Kwayie im Berliner Sportforum, in dem Olympia-Kandidaten weiter trainieren durften, ihren Start. „Die Olympiaverschiebung war ein Schocker“, sagte sie. „Ich habe mich eine Woche lang geärgert. Dann kam der Switch: Wir haben ein Jahr Zeit, alles noch besser zu machen und auf einem höheren Niveau in die Saison einzusteigen.“ Die Position im Block zu verändern und damit die Dynamik des Antritts war nur wegen der Zwangspause möglich: „Normalerweise bereitest du die Saison vor und nimmst alles, wie es ist. Du versuchst nur, das Niveau zu steigern, noch mehr Speed draufzusetzen. Aufgrund von Corona konnten wir uns Zeit für den Start nehmen, das zahlt sich aus.“
Die Abwesenheit von Gina Lückenkemper und Tatjana Pinto, die wie Konstanze Klosterhalfen (1500 Meter) sowie die Olympiasieger Christoph Harting (Diskus) und Thomas Röhler (Speer) der Meisterschaft fernblieben, empfand Lisa Marie Kwayie nicht als Umstand, der den Wert ihres Titels schmälert.
Die Corona-Saison, das haben sie und Deniz Almas bewiesen, hat ihren eigenen Wert.
Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Montag, dem 10. August 2020