Jurek Becker: am Stand von Bochum ist allerhand los - Foto: Suhrkamp Verlag
Mit dem Schriftsteller Jurek Becker bei den Olympischen Spielen: Symphonie des Sports … mit der Luft von Frieden und Völkerverständigung
Zugegeben, die Überschrift zu dieser kleinen Buchvorstellung wird bei vielen Zweifel erwecken, man könnte fast schon eine irre „Irreführung der Behörden“ (so ein Buchtitel von Jurek Becker) vermuten: Mit dem Schriftsteller Jurek Becker (1937-1997) bei den Olympischen Spielen?
Wie geht das denn?
Ist das wirklich wahr, zumal über Beckers (olympische) Sportbiografie bisher rein gar nichts bekannt geworden ist, sieht man einmal davon ab, dass einer seiner Romane den Titel „Der Boxer“ trägt. Darin geht es allerdings nicht um die Box-Biografie, sondern um die Lebens-geschichte des jüdischen KZ-Überlebenden Aron Blank – finster und fernab vom olympischen Boxen.
Zur Person Jurek Becker vorab noch so viel: Er gilt als einer der bekanntesten und erfolgreichs-ten Autoren unserer Zeit. Er wurde in Lodz (Polen) geboren, musste seine Kindheit u.a. in mehreren Konzentrationslagern (KZ) verbringen und kam später mit seinem Vater nach Ost-Berlin, wo er 1969 mit „Jakob der Lügner“ debütierte und rasch große Popularität erlangte. Später konnten seine Bücher nicht mehr in der DDR erscheinen, weil er längst als Regimekritiker aufgefallen war.
Becker erhielt zunächst ein auf zwei Jahre befristetes Ausreisevisum in die Bundesrepublik, das 1979 um weitere zehn Jahre verlängert wurde. Neben dem Schreiben von Romanen und Drehbüchern hatte Becker offenbar (privat) ein Faible für das Schreiben und Versenden von Postkarten an die Lieben daheim und an beste Freunde.
Allein um diese Postkarten geht es in dem jetzt erschienenen „dicken“ Band mit dem ebenso irren Titel: „am Strand von Bochum ist allerhand los“ – komisch, werden manche denken, wo mag denn ausgerechnet in Bochum ein Strand sein? Tatsächlich joggen aber zwei Erwachsene auf der Rückseite der Postkarte an einem Strand (aber doch nicht in Bochum!?) am Wasser entlang – prima, werden andere denken, Becker hat offenbar ein Faible für bewegungsbezogene oder gar sportliche Bildmotive bei der Auswahl seiner Ansichtskarten. Mehr noch: War da etwa doch was mit Olympischen Spielen? Abwarten!
Das emsige Schreiben von Postkarten aus aller Welt war für Becker eine Art Sprachspielerei, gepaart mit allerhand verbalen Albernheiten im Text, so ist schon im Einband des 400 Seiten starken Postkartenwerkes zu lesen. Auch hier spielt Becker als witziger und tiefgründiger Autor seine Rolle glänzend. Wer das Werk jedoch näher betrachtet, der findet rasch zahlreiche foto-grafische Zugänge zum Sport bei der Motivwahl der Ansichtskarten, die Becker jeweils für die Adressaten der Karten mit Bedacht ausgewählt hat. Mehr als zwei Dutzend der Karten beinhal-ten demnach sportive Darstellungen und manchmal geht es sogar im handschriftlichen Text mit Sport weiter … eben bis hin zu den Olympischen Spielen als Highlight:
Wir schreiben den 20. September 1988, Jurek Becker befindet sich tatsächlich gerade in Seoul – und dann geht die olympisch-literarische Post ab: „Ihr Liebsten, hier auf die Schnelle einen (letzten) Herzensgruß. Wir sind hier alle eine fröhliche Familie, wir lauschen der Symphonie des Sports und atmen die Luft des Friedens und der Völkerverständigung in vollsten Zügen.
Auf der Rückseite seht Ihr die Siegerehrung im Stabhochsprung, ach wärt Ihr doch dabei! Halleluja! – Jurek“. Mal davon abgesehen, dass es auf der Rückseite keine Siegerehrung im Stabhochsprung, sondern (nur) schwebende Engel über einer betenden Gemeinde zu sehen gibt, bleibt nur eine spannende Frage: Wer sendet uns im Sommer eine vergleichbare Ansichtskarte aus Tokio?
Zu den übrigen Sportmotiven in den Postkarten beispielhaft vielleicht noch dies: Die Spanne der Sportarten bzw. Bewegungsformen reicht von „Ski total“ (S. 30) über Tennis (S. 156) – sogar von den US Open (S. 235) – über Baseball (S. 222) bis zum Wasserski (S. 373). Dazwischen gibt es noch ein olympisches Briefmarkenmotiv aus Griechenland (S. 167) und zwei Postkarten mit synchroner (S. 113) Gymnastik und durch die Luft wirbelnder Menschen (S. 149) sowie schließlich Prince Charles und seine Diana fertig zur Abfahrt mit ihren im Jahre 1991 gerade modernen K2-Skiern (S. 146).
Fazit: Sport ist und bleibt ein Kulturgut unserer Zeit – immerzu kommunikationsfähig, selbst mit Spuren auf Postkarten und mit Jurek Becker als prominentem Schreiberling über Olympische Spiele!
Jurek Becker: am Stand von Bochum ist allerhand los. Postkarten. Frankfurt 2018: Suhrkamp. 400 S.; 20,00 Euro.
Prof. Dr. Detlef Kuhlmann