Melat Kejeta gewann sensationell die Silbermedaille bei den Weltmeisterschaften im Halbmarathon. - Foto: World Athletics / Dan Vernon
Melat Kejeta und das Märchen aus 1001 Nacht
Es war wie ein Märchen aus 1001 Nacht. Denn diese Silbermedaille von Melat Kejeta am vergangenen Sonnabend bei den Halbmarathon-Weltmeisterschaften war eigentlich nicht möglich.
Wie hat die 28-jährige Athletin des Laufteams Kassel das gemacht?
Sicherlich hat Melat Kejeta davon profitiert, dass gleich drei Topfavoritinnen im polnischen Gdynia stolperten und auf das Pflaster fielen und dann auch noch die vor ihr laufende Äthiopierin vor der Kurve unmittelbar vor dem Ziel einen Schlenker in die falsche Richtung machte.
Doch einmal abgesehen davon, dass auch ein fünfter Platz eine Sensation gewesen wäre, hätte es sogar noch besser kommen können. Denn nur durch einen Sprung wie beim Hürdenlauf umging Peres Jepchirchir selbst einen Sturz. Hätte sich die kenianische Weltmeisterin bei dieser Aktion eine Zerrung zugezogen, wäre Melat Kejeta vielleicht sogar Weltmeisterin geworden.
Manchmal kann der Sport unberechenbar sein.
Und in diesem Monat des Corona-Jahres 2020 zeigte sich dies gleich zweimal bei den hochklassigsten Rennen des Jahres: Erstmals seit sieben Jahren konnte Kenias Superstar Eliud Kipchoge in London einen Marathon nicht gewinnen und dann stürmte Melat Kejeta in Polen zur Silbermedaille.
Bei den vergangenen sechs Halbmarathon-Weltmeisterschaften waren es immer Athletinnen aus Kenia und Äthiopien, die die Medaillen im Rennen der Frauen unter sich ausmachten. Noch nie hat eine deutsche Läuferin bei dieser WM, die 1992 ihre Premiere hatte und dann zunächst jährlich stattfand, eine Medaille gewonnen. Die heutige Marathon-Bundestrainerin Katrin Dörre-Heinig hatte 1997 mit Rang sechs die bisher beste Platzierung erreicht.
Melat Kejeta hat sicherlich auch Glück gehabt in Gdynia, aber sie zeigte dabei eine absolute Weltklasseleistung. Mit ihrer enormen Steigerung auf 65:18 Minuten wurde sie zur elftschnellsten Halbmarathonläuferin aller Zeiten, in der Jahresweltbestenliste steht sie auf Rang drei. Den 25 Jahre alten deutschen Rekord der Berlinerin Uta Pippig (67:58) hat sie deutlich unterboten. Den Europarekord der ebenfalls aus Äthiopien stammenden Sifan Hassan (Niederlande/65:15) verfehlte Melat Kejeta um lediglich drei Sekunden.
Sie ist jetzt die zweitschnellste Europäerin aller Zeiten und steht in dieser Liste unter anderen vor der legendären Britin Paula Radcliffe. Den „Women Only European Record“ – der internationale Leichtathletik-Verband World Athletics hat zusätzlich eine Bestmarke eingeführt, die sich auf reine Frauenrennen ohne Männer bezieht – hat Melat Kejeta in Gdynia bei sehr guten Wetterbedingungen gebrochen. Diesen hielt die aus Kenia stammende Holländerin Lornah Kiplagat mit 66:25 Minuten.
„Ich bin sehr, sehr glücklich und freue mich über diese gute Leistung. Klar, ich wollte mein Bestes geben, aber mit diesem Ergebnis hätte ich nicht gerechnet“, sagte Melat Kejeta, die vor sieben Jahren aus politischen Gründen nach Deutschland geflüchtet ist. Einen Start in Italien nutzte die aus Äthiopien stammende Läuferin, um sich abzusetzen. Sie kam dann nach Kassel, wo der frühere Marathon-Bundestrainer Winfried Aufenanger sie bis heute als Trainer betreut.
In den letzten Jahren zeigte Melat Kejeta mehrfach, dass sie das Potenzial hat zu absoluten Topleistungen. 2018 steigerte sie sich zunächst im holländischen Venlo über die Halbmarathondistanz auf 68:41 Minuten (ihre bisherige Bestzeit), dann gewann sie zwei Wochen später überraschend den Berliner Halbmarathon in 69:04. 2019 lief sie auf einen hervorragenden sechsten Platz beim Berlin-Marathon und erzielte mit 2:23:57 Stunden das schnellste Debüt einer deutschen Marathonläuferin aller Zeiten.
Doch ihr Halbmarathonrennen bei der WM in Polen ist noch eine ganz andere Kategorie. Beim Halbmarathon in Frankfurt im September, den sie in 69:04 gewann, wollte sie eigentlich schon eine 67er Zeit erreichen. Nun kam einige Wochen später eine noch wesentlich deutlichere Steigerung, die darauf hindeutet, dass auch im Marathon ein großer Sprung möglich ist. Die deutsche Rekordzeit von Irina Mikitenko (2:19:19 Stunden) müsste sie klar unterbieten können, wenn sie ihr jetzt gezeigtes Potenzial auf die 42,195-km-Strecke übertragen kann.
Melat Kejeta ist nach Athletinnen wie Christa Vahlensieck, Katrin Dörre-Heinig, Uta Pippig und Irina Mikitenko auf dem Weg, die nächste große deutsche Marathonläuferin zu werden.
Von World Athletics gibt es zum Frauenrennen ein Video, auf das verlinkt werden kann:
https://www.facebook.com/WorldAthletics/videos/2825849074406029/
RETTET UNSERE LÄUFE – SAVE THE EVENTS – Foto: Victah Sailer
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