Rennfahrer mit Seifenkiste: Trotz angeborener Stoffwechselkrankheit entwickelt sich Andrin Walts Körper normal. Foto: Ursula Meisser - Universität Zürich (UZH)
Medizin – Andrins seltene Krankheit – Thomas Gull – Universität Zürich – (UZH)
Die meisten seltenen Krankheiten sind genetisch bedingt und können noch nicht geheilt werden. Doch die Therapien werden ständig verbessert. Das hilft den Patienten, wie das Beispiel von Andrin Walt zeigt.
Andrin Walt war ein Wunschkind. Das erste von Nicole Spirig Walt und Thomas Walt. Die Mutter war 34, als Andrin nach einer problemlosen Schwangerschaft zur Welt kam. Ein gesundes Kind, wenn auch etwas klein und leicht. Andrin wurde gestillt, er legte an Gewicht zu. Die ersten sechs Monate schien seine Entwicklung normal zu verlaufen – bis sein Stoffwechsel «entgleiste».
«Andrin erbrach und hyperventilierte», erinnert sich Nicole Spirig an die bangen Momente vor bald elf Jahren, als sich die Krankheit bei ihrem Sohn zum ersten Mal bemerkbar machte, «er war apathisch und appetitlos.» Sie geht mit Andrin zum Kinderarzt. Diagnose: Magen-Darm-Grippe, das Kind schon etwas dehydriert.
Wieder zu Hause: Andrin lehnt die Medikamente ab. «Wenn ich ihn anschaute, verschwanden die Pupillen. Ich hatte Angst und wollte mit dem Kind ins Spital.» Nicole Spirig ruft ihren Mann an. Er fährt sie ins Kantonsspital St. Gallen. Die Mutter hält das Kind im Arm und redet mit ihm: «Andrin, schau mich noch einmal an, Andrin.» Im Kinderspital: Andrins Blutbild ist katastrophal.
Der Oberarzt fordert von der Intensivstation ein Team an. Andrin bekommt eine Spritze, Infusionen werden gesteckt, das Kind wird ins künstliche Koma versetzt. «Ich stand in einer Ecke, konnte mich nicht mehr bewegen. Ich dachte, mein Kind sei gestorben.» Nicole Spirig bleibt alleine zurück, ihr Mann begleitet den Sohn auf die Intensivstation. «In diesem Moment dachte ich: Mir wird der Inhalt meines Lebens genommen.»
Alles wird gut
Der Vater ist auf der Intensivstation, als die neuen Laborwerte eintreffen. Der Oberarzt sagt zu Andrin: «Kleiner Mann, wir haben dich gerettet.» Das Team klatscht. «Mein Mann kam zu mir und sagte: Alles wird gut», erinnert sich Nicole Spirig. Sie sitzt zusammen mit Andrin im Büro von Matthias Baumgartner, dem Direktor des Forschungszentrums für das Kind (FZK) am Universitäts-Kinderspital Zürich.
Baumgartner ist Spezialist für Stoffwechselkrankheiten und leitet «radiz» (Rare Diseases Initiative Zürich), den klinischen Forschungsschwerpunkt zu seltenen Krankheiten der Universität Zürich. Er betreut Andrin und viele andere Kinder mit seltenen Stoffwechselkrankheiten. Der Junge hatte Glück. Er überlebte, obwohl die Vergiftungswerte im Blut sehr hoch waren. Und er erlitt keinen metabolischen Schlaganfall, der zu bleibenden Schädigungen des Gehirns führt.
Doch was ist damals passiert? Andrin hatte im Alter von sechs Monaten die erste grosse metabolische Krise, die von der Stoffwechselkrankheit Methylmalonazidurie (MMA) ausgelöst wird – eine seltene, erbliche Krankheit, bei der ein Teil der lebensnotwendigen Aminosäuren in den Zellen nicht verarbeitet werden kann. Andrin kann diese Bausteine, die mit der Nahrung aufgenommen und in körpereigene Proteine eingebaut werden, nicht mehr abbauen.
Sie sammeln sich als Abfallprodukte im Körper an und vergiften ihn – Organe wie die Niere funktionieren nicht mehr, schliesslich kollabiert der Körper. Wenn nicht rechtzeitig eingegriffen wird, endet die Krise tödlich. Oft wird sie begleitet von einer besonderen Art Schlaganfall, der nur Teile des Gehirns zerstört, die für die Steuerung der Motorik verantwortlich sind.
«Viele Kinder, die eine metabolische Krise durchleben, bleiben deshalb körperlich behindert. Ihre Intelligenz ist aber nicht beeinträchtigt», erklärt Baumgartner. Andrins Krankheit ist ein typisches Beispiel für eine angeborene Stoffwechselkrankheit. Diese zeigen sich oft schon bei Kindern. «Sie sind oft schwerwiegend, chronisch und selten», sagt Baumgartner.
Selten bedeutet: Weniger als eine Person auf 2000 ist davon betroffen. Bei MMA ist es eine auf 50 000. Chronisch bedeutet: Sie kann nicht geheilt werden. Oder vielleicht besser: noch nicht. Früher endeten Krankheiten wie die MMA tödlich, die Patienten starben nach einigen Monaten oder wenigen Jahren. Mittlerweile kann die Krankheit so behandelt werden, dass die Lebenserwartung stetig steigt. Die älteste MMA-Patientin in der Schweiz ist 43-jährig.
Andrin Walt ist ein Beispiel dafür, wie man heute die Krankheit in Schach halten kann, wenn sie rechtzeitig erkannt und konsequent behandelt wird. Der Elfjährige entwickelt sich normal, er hat keine körperlichen Behinderungen und er kann zur Schule gehen. Er sei gerne im Wald, wo er Öfen baue, in denen beispielsweise Brot gebacken werden kann, erzählt er stolz. Und er fährt Ski. Zu seinen Hobbys gehören auch Seifenkistenrennen, die er zusammen mit seinem jüngeren Bruder Mattia bestreitet.
Diät und Disziplin
Im Alltag verlangt die Krankheit sehr grosse Disziplin von Andrin und seiner Familie. Dazu gehört eine strikte Diät: Er darf nur so viel Eiweiss aus natürlichen Quellen zu sich nehmen, wie sein Körper verarbeiten kann. Jede Nacht um zwei Uhr muss er aufstehen, dann gibt es einen Aminosäuren-Shake. Regelmässig wird ihm Vitamin B12 gespritzt. Es aktiviert das defekte körpereigene Enzym wenigstens so weit, dass zumindest ein kleiner Teil der essenziellen Aminosäuren verstoffwechselt werden kann. Deshalb entwickelt sich Andrins Körper, der die Aminosäuren benötigt, um zu wachsen, normal. «Das macht aus der schweren Krankheit nur eine mittelschwere», sagt Matthias Baumgartner.
Baumgartner betreut und behandelt Kinder mit seltenen Krankheiten. Und er erforscht Krankheiten wie MMA intensiv. Als Basis dient unter anderem eine Datenbank mit mittlerweile rund 200 MMA-Patientinnen und -Patienten aus ganz Europa, die es erlaubt, den Verlauf und die Behandlung der Krankheit zu verfolgen.
Zu den grossen Problemen bei der Erforschung seltener Krankheiten gehört, dass man oft zu wenig Probanden und Daten für verlässliche Studien hat. Und, so Baumgartner: «Wenn wir über genügend Patientinnen und Patienten für klinische Studien verfügen, wird das auch für die Pharmaindustrie interessant, auf die wir als Partner angewiesen sind.» Vielversprechend ist auch die Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern aus anderen Fachgebieten, die dank des Forschungsschwerpunkts «radiz» möglich geworden sind.
«Wir wollen die Krankheit besser verstehen, um sie gezielter behandeln zu können», sagt Baumgartner. Er sieht zwei Wege, um dieses Ziel zu erreichen: Zum einen könnten die fehlerhaften Prozesse in den Zellen, die dazu führen, dass gewisse Aminosäuren nicht korrekt abgebaut werden, so beeinflusst werden, dass dies trotzdem geschieht. So könnten die negativen Auswirkungen des Gendefekts behoben werden.
Besser verstehen, gezielter behandeln
Noch besser wäre, die Krankheit an der Wurzel zu packen, sprich den Gendefekt zu beheben. Eine entsprechende Gentherapie funktioniert heute im Mausmodell – allerdings bisher nur in der Leber. «Entscheidend wäre, dass wir auch das Gehirn und die Niere einbeziehen können, die von der Krankheit stark betroffen sind», sagt Baumgartner. Wenn das gelingt, könnte die Krankheit weitgehend geheilt werden.
Bis es so weit ist, brauchen MMA-Patienten wie Andrin Walt Geduld, Selbstdisziplin und ein Umfeld, das sie trägt. So machten die Walts lange Zeit keine Ferien im Ausland. Als sie es vor drei Jahren einmal versuchten, endete die Reise statt in der Toscana im Kinderspital Zürich. Um vier Uhr in der Früh, beim Team von Matthias Baumgartner. Andrin war unterwegs in eine metabolische Krise geraten, die Familie musste umkehren.
Andrin hat drei Geschwister, Schwester Cellina und die Zwillinge Leonie und Mattia. Alle sind jünger als er. Nicole Spirig und Thomas Walt wollten eigentlich keine Kinder mehr, weil beide Träger der Krankheit sind. Es bestand deshalb eine 25-prozentige Wahrscheinlichkeit, dass ein weiteres Kind krank wird. Doch Matthias Baumgartner machte ihnen Mut. Ein Test während der Schwangerschaft bestätigte dann jeweils, dass die Kinder gesund waren. Heute wachsen sie in einer Grossfamilie auf. «Die vier streiten», erzählt die Mutter, «wie es sich gehört.» Und sie fahren zusammen Seifenkistenrennen. Andrin machte bereits den ersten Schritt zu seinem Traumberuf als Landmaschinenmechaniker. Der Elfjährige hat auf eigene Faust einen Schnuppertag in der Garage im Dorf organisiert.
Medikamente für seltene Krankheiten
Medikamente für seltene Krankheiten sind rar. Das liegt einerseits daran, dass diese für die Pharmaindustrie nicht besonders interessant sind, weil es wenig Patientinnen und Patienten gibt. Andererseits fehlt es oft an Probanden und Informationen für aussagekräftige klinische Studien, die es für Entwicklung und Zulassung von Medikamenten braucht. Zusammen mit Olivier Devuyst und Uli Zeilhofer von der UZH sowie Jonathan Hall von der ETH will Matthias Baumgartner das mit dem Nationalen Forschungsschwerpunkt (NFS) «Accelerated Drug Discovery in Rare Diseases» ändern. Eine entsprechende Eingabe beim Nationalfonds ist in Vorbereitung.
Ziel des NFS ist die Vernetzung von Grundlagenforschung und Klinik. «Wir wollen beispielsweise mit Chemikern zusammenspannen, die für uns nach den passenden Molekülen zur Behandlung der seltenen Krankheiten suchen», sagt Baumgartner, «ich kenne die Probleme, habe aber oft nicht die Mittel, um sie zu untersuchen.»
Baumgartner steht bereits in Kontakt mit der Chemieprofessorin Cristina Nevado von der UZH: «Das ist enorm bereichernd für beide Seiten.»