Medikamentensucht: Experten warnen, das Problem nicht zu unterschätzten. - Foto: Horst Milde
Medikamente im Leistungssport: Ungesunder Umgang mit Schmerzmitteln – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Mehr Einsatz trotz Verletzung: Im deutschen Leistungssport gibt es eine gefährliche Einstellung gegenüber Schmerzmitteln. Experten warnen vor Medikamentensucht und fordern einen Kulturwandel.
Einen Kulturwandel auf allen Ebenen des Sports in Bezug auf den Einsatz von Schmerzmittel haben Experten bei der öffentlichen Anhörung des Sportausschusses des Deutschen Bundestages am Mittwoch in Berlin gefordert.
Der Generalsekretär der internationalen Fußball-Spielergewerkschaft Fifpro, Jonas Baer-Hoffmann, sagte, es gehöre zum Alltag von Leistungssportlern, körperliche Beschwerden zu haben; im Leistungssport herrsche ein sehr ungesunder Umgang mit Verletzungen, Schmerz und genereller Einschränkung von Leistungsfähigkeit.
Er beklagte die Glorifizierung von schlechten Gesundheitsentscheidungen zum vermeintlichen Wohl von Team und Klub, von Einsatz statt Pause. Wie die Vorstandsvorsitzende der Nationalen Anti-Doping-Agentur (Nada), Andrea Gotzmann, warnte Baer-Hoffmann vor der auch von der Corona-Krise ausgelösten Verdichtung des Spiel- und Terminkalenders und der Intensivierung des Spiels.
Unterschätzte Medikamentensucht
Medikamentensucht werde unterschätzt, sagte der Mediziner und Sportwissenschaftler Dieter Leyk, Professor der Deutschen Sporthochschule Köln und Leiter des Instituts für Präventivmedizin der Bundeswehr. Er zitierte eine Untersuchung der „Ärztezeitung“ von 2019, laut der mehr als 1,6 Millionen Menschen in Deutschland von Schmerzmitteln abhängig sind, mehr als von Alkohol (3,2 zu 3,1 Prozent).
Jeder Bürger Deutschlands gebe im Durchschnitt pro Jahr 12,53 Euro für Schmerzmittel aus; der Einsatz verschreibungspflichtiger Substanzen steigt. Leyk trat der Ansicht entgegen, dass im Freizeitsport die Einnahme von Analgetika weitverbreitet sei.
In einer Befragung seines Instituts von 50.000 Ausdauersportlern hätten 95 Prozent angegeben, niemals oder selten Schmerzmittel zu nehmen. Nur 0,4 Prozent nähmen sie mehrmals wöchentlich. Tim Meyer, Arzt der deutschen Fußballnationalmannschaft, bestätigte, dass sein Verband, wie der Handballbund, eine Untersuchung zum Gebrauch von Schmerzmitteln begonnen habe.
Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Mittwoch dem 27. Januar 2021