Tim Lobinger - Verlieren ist keine Option im Riva Verlag Photo: Giancarlo Colombo@Photo Run Victah1111@aol.com 631-741-1865 www.photorun.NET
Lesetipps – Last-Minute-Lese- und Geschenktipps zu Weihnachten: Prof. Dr. Detlef Kuhlmann stellt vor
Als Hochhausspringerin vom Bungalow zu Helmut, Joachim, Udo und anderen
Sport ist Körperkunst. Literatur ist Kunst in Worten. Wenn beides hochwertig zusammenkommt, sprechen wir schon mal von Sportbelletristik. Solche Bücher gibt es reichlich. Jedes Jahr werden es mehr. Nimmt man nur jene, die in den letzten Monaten dieses Jahres erschienen sind, dann ist vielleicht für manche etwas dabei zum Selbstlektüre an ruhigen Feiertagen und für manche vielleicht als passendes Geschenk für andere – egal:
Diese kleine Auswahl an neueren (Sport-) Büchern beansprucht keine Vollständigkeit, kann allenfalls als etwas gediegen gelten, betrachtet man allein die Breite und die Blickwinkel, aus denen der Sport hierbei facettenreich literarisch geformt wird:
Bernd-M. Beyer: Helmut Schön. Eine Biografie. 2. Auflage. Göttingen 2018: Verlag Die Werkstatt. 544 S.; 28,- Euro
Dieses Buch zeichnet die Biografie jenes Mannes nach, der bis heute der erfolgreichste Bundestrainer der Nationalmannschaft des Deutschen Fußball-Bundes ist. Helmut Schön (1915-1996) formte vor knapp 50 Jahren eine Mannschaft, die 1972 Europameister und 1974 Weltmeister wurde. Er selbst galt als der feinfühlige Intellektuelle aus Dresden und pflegte einen bis dahin im Sport eher seltenen Führungsstil ganz im Sinne von „Mehr Demokratie wagen“, was damals dank Willy Brandt gerade gesellschaftlich populär wurde. Insofern ist das Buch auch eine Zeitreise in die „alte“ Bundesrepublik und woandershin.
Moritz Fürste mit Björn Jensen: Nebenbei Weltklasse. Aus Liebe zum Sport. Hamburg 2018: edel Books. 272 S.; 17,95 Euro
Moritz Fürste (geb. 1984) ist u.a. zweifacher Olympiasieger (2008 und 2012) und das bekannteste Gesicht des deutschen Hockeysports der Gegenwart. Dazu trägt allein neuerdings die Coverseite seines Buches bei. Eigentlich sind es zwei Bücher in einem: Eins ist seine Biografie und das andere ist eine kritische Analyse über Sportstrukturen der Gegenwart in Deutschland. Auf den Punkt gebracht lautet eine These von ihm so: „Eine Karriere im Volleyball, Eishockey oder eben auch im Hockey, findet hierzulande unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt.“ Das Buch ist – wie könnte es anders sein – in vier Viertel geteilt und deren Überschriften gehen so: Mein Großwerden (1), Nationalteam (2) Teambuilding und Zeitmanagement (3), Monosportkultur (4). Das Warmlaufen und das Auslaufen bilden den textlichen Rahmen zuzüglich einer Pause zwischendurch.
Helene Hegemann: Bungalow. Roman. Berlin 2018: Hanser. 284 S.; 23,- Euro
Diese Autorin ist 2010 mit ihrem inzwischen verfilmten Roman „Axolotl Roadkill“ weltweit bekennt geworden, der mittlerweile in 20 Sprachen übersetzt wurde. Im neuen „Bungalow“ geht es um das Leben im kleinen Kiez (könnte gut in Berlin sein) von Tochter Charlie und ihrer alkoholsüchtigen Mutter … um Sport geht es tatsächlich (nur) an einigen Stellen, wo Charlie bei den Bundesjugendspielen völlig überraschend im Dauerlauf Fünfte wird (S. 39) oder es geht um jenen Mann, der plötzlich auf dem Spielplatz auftaucht, vermutlich „weil irgendein Fußballspiel abgesagt worden war oder ein Tennisturnier oder der Tag der offenen Tür des deutschen Kajakverbands“ (S. 54).
Stefan Kretzschmar mit Nils Weber: Hölleluja. Warum Handball der absolute Wahnsinn ist. Hamburg 2018: edel Books. 320 S.; 17,95 Euro
Stefan Kretzschmar (geb. 1973), einst Weltklasse-Linksaußen im Trikot der Auswahl des Deutschen Handballbundes, ist auch nach der Beendigung seiner Karriere medial immer noch omnipräsent, nicht nur als fachlich versierter Fernsehkommentator, sondern auch als erfolgreicher Buchautor. Jetzt hat er pünktlich zu Weihnachten und quasi als literarische Einstimmung auf die Handball-Weltmeisterschaft im Januar 2019 in Deutschland und Dänemark sein zweites Buch nach „Anders als erwartet“ (2009) vorgelegt: „Hölleluja“ beantwortet gemäß Untertitel die Frage, warum Handball der absolute Wahnsinn ist, in insgesamt acht Kapiteln nach dem Einwerfen und der Hymne folgen zwei Halbzeiten mit einem Time out und der Pause, bevor das Spiel in die Verlängerung geht und mit dem Auslaufen schließt. Echt bemerkenswert sind ganz am Ende die Danksagungen, denn darin eingeschlossen sind alle „Ehrenamtlichen in den Handballhallen dieses Landes – ganz gleich, in welcher Liga – die mit viel Herzblut bei der Sache sind, aber stets im Schatten stehen.“
Udo Lindenberg mit Thomas Hüetlin: Udo. Mit Illustrationen von Udo Lindenberg. Köln 2018: Kiepenheuer & Witsch. 350 S.; 24,- Euro
Sorry – aber bei dem Namen Udo Lindenberg denkt man nicht unbedingt gleich an Sport. Der 72-jährige Künstler gilt eher als Deutschlands bekanntester und bedeutendster Rockmusiker mit fast 50 Alben seit den frühen 1900er Jahren. Wer jedoch seine neue Biografie genau und ganz liest, findet hier und da winzige Textpassagen, in denen es im Kontrast zu Udos andere Eskapaden plötzlich dann doch um seine zeitweiligen sportlichen Aktivitäten geht – sieht man einmal davon ab, dass Udos erste Freundin damals noch in Gronau („die slawische Schönheit Jule“ (S. 89) eine Turmspringerin gewesen sein soll. Udo selbst läuft lieber „in Hamburg vom Atlantic aus gegen drei Uhr früh einmal um die Alster. Das sind nur acht Kilometer“ (S. 333), es sei denn, er liegt gerade „in einer Umkleidekabine in einem Fußballstadion in Leipzig“, wie schon zehn Seiten vorher zu lesen ist.
Tim Lobinger: Verlieren ist keine Option. Mein Kampf gegen den Krebs. München 2018: riva Verlag. 240 S.; 19,99 Euro
Vielfacher Deutscher Meister, Hallen-Weltmeister, Hallen-Europameister, Vize-Europameister, mehrfacher WM- und Olympia-Teilnehmer – das sind nur größten Erfolgstationen jenes bekannten Stabhochspringers, der 1997 als erster Deutscher im Freien die magische 6-Meter-Marke mit dem Stab in der Hand übersprang. Mit Tim Lobinger (geb. 1972) verbinden wir schöne Bilder eines strahlenden und erfolgreichen und selbstbewussten jungen Athleten. Doch auf der Coverseite dieses Buches blickt uns ein von Krankheit gezeichneter Tim Lobinger entgegen, der einst als Athletiktrainer bei RB Leipzig arbeitete, bis ihn im Frühjahr 2017 die Diagnose Leukämie traf. Wie er damit umgeht, davon erzählt er auch, um anderen Menschen Mut zu machen, den Kampf gegen den Krebs anzunehmen – ganz getreu der sportlichen Metapher „Verlieren ist keine Option“.
Julia von Lucadou: Die Hochhausspringerin. Roman. Berlin 2018: Hanser. 284 S.; 19,- Euro
Dieses Buch wurde im Herbst in den Feuilletons als großes Romandebüt der in Köln, Biel (Schweiz) und New York lebenden Fernsehredakteurin Julia von Lucadou (geb. 1982) gefeiert. Es geht um Riva, die bekannte und berühmte Hochhausspringerin, die mit ihrem perfekten Körper und mit ihrer noch perfekteren Körperkunst im Hochhausspringen die Massen begeistert. Doch irgendwann hat Riva genug davon, schmeißt hin, in früheren Zeiten hätte man so etwas mit Burn-out oder speziell im Sport mit Drop-out bezeichnet und versucht, ihr zu helfen. Doch in der neuen Welt, in die uns die Autorin mitnimmt, geht das etwas anders: Hitomi übernimmt … und muss dabei gleich um ihre eigene Existenz mitführten.
Andreas Menzel: Mein Leben als Tennisroman. Berlin 2018: Blumenbar im Aufbau Verlag 360 S.; 20,- Euro
Dieser Titel ist irre: Wie muss man sich ein Leben als Tennisroman vorstellen? Wer spielt da gegen wen? Über wie viele Sätze geht das Match? Spielt das Tennisleben in Wimbledon oder Paris … oder tatsächlich beim Nordburger TSV irgendwo auf einem Platz auf Asche zwischen Flensburg und Rendsburg, wo der Autor geboren ist? Über Andreas Menzel (geb. 1970) ist zumindest noch soviel bekannt: Er hat einst das verbandliche Lizenzsystem des Deutschen Sportbundes oder des Deutschen Olympischen Sportbundes erfolgreich durchlaufen. Allerdings ist seine damals erworbene C-Lizenz für Tennis inzwischen abgelaufen. Vielleicht geht es auch nur deswegen um die Schreibkrise und die Tenniskrise: „Was sie einst so gut konnten und ihnen soviel Freude machte, ist zum Problem geworden: Tennis und Literatur, die kompliziertesten Spiele“ (S. 38/39).
Frieder Pfeiffer: „Ronaldo stirbt“. Verschwörungstheorien im Sport. Bielefeld 2018: Delius Klasing Verlag. 144 S.; 16,90 Euro
Was im Sport passiert, weiß vorher niemand. Davon lebt der Sport. Das macht ihn so anziehend für Aktive, aber auch für die Beobachterperspektive. Und was wir dann zuweilen im Sport erleben, ist etwas Unglaubliches. Kann man das erklären? Der Autor, langjähriger Reporter für Spiegel online und die Süddeutsche Zeitung, ruft uns solche unglaublichen Ereignisse aus dem Sport der Vergangenheit in Erinnerung und formatiert diese als seltsame „Verschwörungstheorien im Sport“, allerdings ohne eine streng kriminalistische Aufklärungsarbeit dabei gleich mitzuliefern. Wie war das noch mit Olympiasieger Dieter Baumann, dem er sich im Abschnitt mit der Überschrift „Dreckige Zahnpasta“ widmet? Oder wenn es um die Frage geht, ob ein historischer Stromausfall den Ausgang den 47. Super Bowl 2013 in den USA beeinflusst hat. Der moderne Sport hat sich im 20. Jahrhundert so oder so „zum Biotop für Verschwörungsgewächse“ entwickelt, das steht schon im Vorwort geschrieben und davon erzählt Pfeiffer insgesamt 21 Geschichten.
Uwe Prieser: Der auf meines Lebens oder ein Echo des Glücks. Roman. Bruchhausen-Vilsen 2018: Verlag Kleine Fische. 152 S.; 17,90 Euro
Die Japanerin Naoko Takahashi ist eine der erfolgreichsten Läuferinnen der Marathon-Geschichte. Wir erinnern uns: Olympiasieg 2000, Siegerin beim Berlin-Marathon 2001 und 2002. Sie lief als Frau erstmals unter 2:20 Std. Jetzt hat ihr der renommierte Bremer Sportjournalist und Egon-Kisch-Preisträger Uwe Prieser (geb. 1945) ein feinfühliges literarisches Denkmal gesetzt. Eine rührende Geschichte über Lebensflucht und Lebensglück – sei es beim Lesen oder Laufen. Gestartet wird in einer Bibliothek, und dann dann dauert die Reise durch den Roman 42,195 Kilometer: „Meine Schritte, mein Atem, der Rhythmus in meinem Körper. Alles passt. Keine Sorge, kein Rechnen, kein Denken. Ich überlasse mich ganz meinem Lauf, als trüge mich mein eigener Atem“ (S. 53).
Mathias Schneider: Löw. Die Biografie. Berlin 2018: ullstein extra. 334 S.; 20,- Euro
Diese Biografie könnte als das ultimative Buch zum „Russland-Jahr“ der deutschen Fußball-Nationalmannschaft gelten. Schließlich wird im hinteren Klappentext klar und konkret angekündigt, dass der Autor (geb. 1970 und seit zehn Jahre Sport- und Wissenschaftsreporter für den STERN) in einer „präzisen Rekonstruktion der WM 2018“ aufzeigt, warum Joachim Löw als Bundestrainer „in Russland auch an seiner Selbstüberzeugung scheitern musste“. Das Buch bietet aber auch noch viel mehr und anderes über den Aufstieg und Triumph von Jogi Löw, der einst in der D-Jugend des TuS Schönau die „Ganz enge Ballführung“ erlernte, wie gleich im ersten Kapitel über die „Schwarzwälder Kindheit“ berichtet wird. Dem folgen weitere 17 Abschnitte z.B. über den „Rock `n‘ Roll in Schwaben“ beim VfB Stuttgart und über die Gastspiele in Karlsruhe und Wien bis ganz am Schluss „Der Aufprall“ (Kapitel 18) erfolgt und sich der Autor im anschließenden Epilog ein paar Gedanken darüber macht, was mit Joachim Löw passiert, wenn er sich irgendwann vom Bundestrainerdasein verabschiedet.
Prof. Detlef Kuhlmann