Anna Isinbayeva (RUS) Werden die russischen Leichtathleten nun ausgeschlossen? Foto: Victah Sailor -
Leichtathletik-Skandal: Russisch Roulette im Sport – Kommentar von Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Dreistigkeit bestimmt den Umgang der russischen Leichtathletik mit ihrer Vergangenheit und den Sanktionen. Nun muss der Weltverband sie endlich ausschließen. Russlands Verband ist nicht reformierbar
Julija Stepanowa packte vor fünfeinhalb Jahren im deutschen Fernsehen aus: Pillen, Spritzen, Schutzgeld. So begann mit den Leichtathleten der russische Doping-Skandal. Weitere Sportarten und die Aufdeckung des Betrugs der Russen bei ihren Olympischen Winterspielen von Sotschi 2014 folgten.
Trotz weltweiter Empörung, trotz enormer Arbeit von Ermittlern und Juristen und trotz der massenhaften Disqualifikation gedopter Russen bei Olympia 2012 in London und der Leichtathletik-Weltmeisterschaft von Moskau 2013 herrscht der Eindruck, Russland komme mit seinen Machenschaften durch.
Bei den Spielen von Rio 2016 war das Land dabei, bei den Winterspielen von Pyeongchang 2018 ebenfalls. Der Kniff, anstelle der Olympiamannschaft neutrale Athleten zuzulassen, verfing nicht. Die russische Trikolore brachten die Zuschauer mit, die Hymne sangen die Athleten selbst.
Allein von den Paralympischen Spielen in Rio waren die Russen ausgeschlossen; an den Leichtathletik-Wettbewerben der Olympischen Spiele nahm eine einzige Russin teil, und sie war nicht Julija Stepanowa, für die der Verband den Status der neutralen Athletin erfunden zu haben schien.
Die Ethik-Kommission des Internationalen Olympischen Komitees sperrte die Whistleblowerin.
Dreistigkeit bestimmt den Umgang der Russen mit ihrer Vergangenheit und den Sanktionen. Kaum hatten sie versprochen, Doping-Trainer rauszuwerfen, erwischten Reporter diese bei der Arbeit mit ihren Athleten. Doping-Kontrollen scheiterten an bewaffneten Posten, weil Leichtathleten auf Kasernengelände trainierten. Der Gipfel war die akribische Manipulation von Daten im versiegelten Doping-Kontrolllabor in Moskau, welche der Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada) überlassen werden sollten.
Als Verbandsfunktionäre dann auch noch dem Hochspringer Danil Lyssenko attestierten, er sei für Doping-Kontrollen nicht erreichbar, da er im Krankenhaus liege, brachte dies das Fass zum Überlaufen. Krankheit, Ärzte, Hospital – alles war erfunden.
Während dies wie ein grausamer Film vor den Augen der Öffentlichkeit ablief, appellierten Hochsprung-Weltmeisterin Marija Lasitskene, Stabhochsprung-Weltmeisterin Anschelika Sidorowa und Hürdensprinter Sergej Schubenkow verzweifelt an den allmächtigen Sportfreund an der Spitze ihres Staates, das unvermeidliche Ende zu verhindern: den zweiten Ausschluss russischer Leichtathleten von den Olympischen Spielen. Doch Wladimir Putin reagierte nicht.
Als der russische Verband die letzte Frist für die Zahlung von gut sechs Millionen Dollar Strafe und Verfahrenskosten verstreichen ließ, stoppte World Athletics die Anerkennung neutraler Athleten, strich also das Startrecht der letzten Sportlerinnen und Sportler aus Russland. Und löste die Arbeitsgruppe auf, welche die Wiederaufnahme des seit 2015 suspendierten Verbandes betrieb.
An diesem Donnerstag muss das Council von World Athletics den Verband endlich ausschließen. Er ist nicht reformierbar. Als wollte er dies höhnisch bestätigen, hat er gerade seine Neuorganisation angekündigt – durch Gründung einer Kommission.
Kommentar von Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am Donnerstag, dem 30. Juli 2020
Michael Reinsch Korrespondent für Sport in Berlin.