Die Münchnerin Amelie-Sophie Lederer. - Foto: Theo-Kiefner / DLV
Leichtathleten in Deutschland: Konkurrenz macht stark – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Derzeit können deutsche Leichtathleten von internationalen Wettbewerben und Trainingsreisen oft nur träumen. Daheim aber herrscht ein Mangel an Rivalen. Nur im Sprint der Männer wird intern gepusht.
Sie begann den Wettbewerb als Letzte, übersprang 4,41 Meter und war damit, zum zehnten Mal und mit einem einzigen Versuch, deutsche Meisterin. Doch zufrieden konnte Lisa Ryzih mit dem Abschneiden bei der deutschen Meisterschaft in der Halle, die am Wochenende ohne Publikum in Dortmund ausgetragen wurde, nicht sein. „International ist das die Einstiegshöhe“, sagte sie.
Deshalb habe sie abgewartet bis zu der Höhe, bei der die letzten drei Konkurrentinnen ausschieden. Sie ließ die Latte daraufhin zwanzig Zentimeter höher legen – und riss dreimal. „Das ist nichts Halbes und nichts Ganzes“, fand sie. „In der Welt kann ich momentan vorne nicht mitspringen. Und in Deutschland reicht mir die Konkurrenzsituation nicht aus.“ Ihr Scheitern an den 4,61 Metern machte das deutlich: Dies ist die Qualifikations-Höhe für die Hallen-Europameisterschaft, die in vierzehn Tagen in Torun in Polen stattfinden wird. Für Lisa Ryzih stehen in diesem Winter 4,42 Meter als Bestleistung zu Buche.
Der Mangel an Herausforderung ist eine eigene Herausforderung für nicht wenige Leichtathleten am Ende eines langen Jahres, in dem wegen der Pandemie viele Wettkämpfe ausfielen, das von der Verschiebung der Olympischen Spiele auf den Sommer dieses Jahres geprägt ist und in dem bis jetzt auch die gewohnten Trainingsreisen nicht stattfinden können. Wer nicht die Zeit zu einer Auszeit nutzt, der- und demjenigen fehlt die Konkurrenz.
Es sei denn, man ist Malaika Mihambo. Sie gewann den Weitsprung mit 6,70 Meter, obwohl sie beim Siegsprung weit vor dem Brett abhob. Sie hatte eine Woche lang mit dem Training aussetzen müssen, weil sie sich so heftig den Kopf gestoßen hatte, dass sie eine leichte Gehirnerschütterung erlitt. „Insofern bin ich froh, dass ich überhaupt hier bin“, sagte sie in Dortmund.
Bester Sprung des Tages
Max Hess, einsame Spitze im Dreisprung, hatte mehr mit sich zu tun als mit seinen Herausforderern. Mit dem einzigen gültigen seiner ersten fünf Versuche schwang er sich auf 16,53 Meter und damit zum Sieg. Dann erst machte er Ernst. „Der Titel ist deiner“, habe er sich gesagt, erzählte er, und „einfach mal draufgeballert aufs Brett und abgesprungen. Da kamen 17 Meter bei raus.“
Das ist zwar ein halber Meter diesseits seiner Bestleistung und 1,07 Meter kürzer als die Top-Leistung dieses Winters, der Hallen-Weltrekord von Hugues Fabrice Zango aus Burkina Faso. Doch der beste Sprung des Tages macht Hess zur Nummer zwei in Europa und damit zu einem Medaillenkandidaten für Torun.
Das Gegenteil der durch Corona bedingten Einsamkeit erlebten in diesem Winter die Stabhochspringer sowie die Sprinterinnen und Sprinter. Torben Blech gewann den ersten Titel vor seinem Trainingspartner Bo Kanda Lita-Baere, indem er 5,72 Meter überflog. Statt ins Trainingslager in Südafrika waren die beiden aus Leverkusen nach Zweibrücken in der Pfalz gefahren, um mit Altmeister Raphael Holzdeppe zu trainieren. „Es ist für uns von Vorteil, dass wir uns täglich auf diesem Niveau messen können“, urteilte Blech.
„Die Finals einer neuen Generation“
Chef-Bundestrainerin Anett Stein freute sich besonders über die Sprints. „Das waren die Finals einer neuen Generation“, sagte sie. „In dieser Disziplin haben wir eine beispielgebende Dynamik.“ Kevin Kranz, Meister und mit 6,52 Sekunden über 60 Meter nun in der deutschen Rekordliste gleichauf mit Julian Reus, machte deutlich, dass er mit höchsten Ambitionen zur Hallen-Europameisterschaft fährt.
Der 22-Jährige ist, zurückgekehrt von anderthalb Jahren Ausfall durch eine Infektion mit dem Pfeifferschen Drüsenfieber, geradezu schlagartig zur Nummer zwei der Welt geworden, gleichauf mit dem Amerikaner Michael Rodgers hinter dessen Landsmann Trayvon Bromell (6,48). Herausforderungen sind sein Antrieb. „Wir haben eine saugute Trainingsgruppe“, sagt er über das Sprint-Team Wetzlar, das in Wirklichkeit in Frankfurt trainiert. „Die anderen sind dazu da, Konkurrenz zu sein. Das ist perfekt. Man steigert sich hoch.“ Sechs Sprinter liefen im Finale Bestzeit.
Ähnlich sind die Aussichten für die Münchnerin Amelie-Sophie Lederer. Sie steigerte sich im Endlauf über 60 Meter auf 7,12 Sekunden; schneller waren in Europa in diesem Winter allein Europameisterin Dina Asher-Smith aus Großbritannien (7,08) und die Polin Ewa Swoboda (7,10). Bis zum Wochenende war sie nicht einmal für Torun qualifiziert.
Statt in Florida trainierten die Sprint-Kader in diesem Winter im Trainingslager Kienbaum bei Berlin – „mal ein anderes Setup durch Corona“, sagt die Bundestrainerin. „Das hat ihnen gar nicht schlecht getan, dass es nicht so gelaufen ist wie sonst.“
Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Montag, dem 22. Februar 2021