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2020

Vizeweltmeisterin, Europarekordlerin, zweifache deutsche Rekordlerin, Bronzemedaillengewinnerin mit dem Team: Melat Yisak Kejeta (Laufteam Kassel) feierte bei der Halbmarathon-Weltmeisterschaft in Polen ein sensationelles DLV-Debüt. - Foto: Michael Bald

Laufen im Jahr 2020: Die nationale Laufelite holt dank der Boch, Kejeta, Dattke und Co. verlorenes Terrain auf – Laufen in Deutschland aber nur für die Leistungsspitze – Wilfried Raatz berichtet

By GRR 0

Der Breiten- und Freizeitsport und Hunderte von Laufevents geraten im Jahr 1 der Corona-Pandemie unter die Räder – Eine etwas andere Saisonbilanz

Ehrlich gesagt, wir haben uns alle auf eine tolle Laufsaison 2020 gefreut. Doch noch ehe diese wirklich auf Touren gekommen ist, war diese zwar nicht ganz vorbei, doch nach einer Phase der Unsicherheit gingen in der Late Saison nur wenige Wünsche der Leichtathletikgemeinde in Erfüllung.

Einige wenige Stadionevents waren eher ein Antasten an die einstmals gewohnte Normalität, zudem behinderten behördliche Auflagen mit Teilnehmerlimits und Zuschauerausschluss die Atmosphäre, die die Leichtathletik ausmacht. Beim Deutschen Leichtathletik-Verband machte man sich für die Stadion-Leichtathletik stark und brachte zumindest für Sprinter, Springer und Werfer einen Saisonhöhepunkt zustande, zuletzt auch durch die Mittelstrecken ergänzt.

Anders im Laufbereich, denn schon frühzeitig strich man in der Darmstädter Leichtathletik-Zentrale die „stadionfernen“ Titelkämpfe im Laufen. Das führte zum Frust vielerorts. Wäre nicht Löbliches von rührigen Veranstaltern in Berlin, Regensburg, Dresden, Frankfurt und Altötting und andernorts gelungen, die Laufsaison wäre auch für die nationale Lauf-Spitze vor die Hunde gegangen.

Und die Ergebnisse?

Heraus kamen Vorzeigeresultate an der Spitze und auch im nationalen Ranking waren die Leistungen der Top 10 oder Top 30 zumeist besser als in den vergangenen Jahren. Dies gilt allerdings eher für die Straße, denn die Startmöglichkeiten auf der Bahn waren eher rar.

Simon Boch   – Foto: Norbert Wilhelmi

Hut ab vor den Leistungen eines Simon Boch, einer Melat Kejeta und einer Miriam Dattke, um nur drei von gewiss einer kleinen Schar von Leistungsträgern zu nennen. Silber und Bronze bei einer Straßenlauf-Weltmeisterschaft, wann hat es dies zuletzt in Deutschland gegeben? Aber es sind vielmehr eine Reihe von Läufern, die mit zum Teil Quantensprüngen zu überzeugen wussten. Ein dringend benötigter Schub für die Laufszene, die zuletzt im Konzert der Leichtathletik-Disziplinen eher eine nachgeordnete Rolle nur zu spielen wusste.

 

Miriam Dattke – Foto: Norbert Wilhelmi

Die Gründe hierfür sind gewiss vielschichtig. Die Wunderschuhe der angesagten Sportausrüster mögen einiges bewirkt haben, vor allem stilistisch. Aber die Hauptgründe für den Leistungsanstieg sind in erster Linie in der ungestörten Aufbauphase ohne die Hatz von Wettkampf zu Wettkampf und den zumeist idealen Voraussetzungen bei den inszenierten Laufwettbewerben einer handverlesenen Konkurrenz. Parallel zu virtuellen Läufen wurde seitens der Organisatoren mit Mut und Beharrlichkeit ein Hygiene-, Abstands- und Durchführungskonzept auf die Beine gestellt, das von den Genehmigungsbehörden in Ost und West, in Nord und Süd in einigen Fällen als tragbar genehmigt wurde.

Das ist die eine Seite der (Läufer-)Medaille.

Doch was geschah mit den vielen Freizeitläufern, die sich im Normalfall bei den angesagtesten Massen-Events in Hamburg, Berlin, Köln, Frankfurt, Stuttgart und München zu Tausenden getummelt hätten? Auch wenn es vielfältige Bemühungen gab, ein tragfähiges massetaugliches Konzept mit dem erforderlichen technischen Aufwand war landauf landab nicht durchsetzbar, das föderale Konstrukt Deutschlands hat hier ein Übriges bewirkt.  Halbherzige Unterstützungen mögen hier eine nicht unwesentliche Rolle gespielt haben, unter dem Strich ist eines klar zu erkennen: Die Motivation der Tausenden von Freizeitsportlern ist in den Keller gerutscht!

Aber nicht nur diese. Von den in Deutschland terminierten Veranstaltungen, gleich ob diese im Ehrenamt oder mit professionellen Strukturen organisiert werden, mussten viele ersatzlos gestrichen, hoffnungsvoll auf einen späteren Zeitpunkt verschoben oder als Notlösung virtuell durchgeführt. Unter dem Strich jedoch zu wenig, um auf Dauer zu überleben.

In diesem Sog talwärts müssen freilich auch die vielfältigen Dienstleister einbezogen werden, die Palette der Angebote reicht dabei von den Toilettenhäuschen über die Startnummern, der Zeitmessung und den Absperrmaterialien bis hin zur Security. Kurzarbeit, Entlassungen, Insolvenz – Horrorszenarien landauf landab. Alleine die Sportartikelindustrie konnte vom Lockdown profitieren, denn Individualsport ist in Deutschland selbst bei harten Einschnitten immer noch möglich. Erfreulich jedenfalls, dass gerade das Jogging enormen Zulauf registrieren konnte.

Bislang greifen die von der Bundesrepublik und den Ländern bereitgestellten finanziellen Unterstützungen nur bedingt, da neben Kultur, Musik auch die Sportveranstalter durch das großmaschige Raster zumeist gefallen sind.  Löblich dabei die Initiative von German Road Races (GRR), mit der Politik ins Gespräch zu kommen, ein sicherlich wertvoller Ansatz, der allerdings eher mittelfristig greifen könnte. Dabei liegt es auf der Hand, dass gerade der Freizeitsport am ehesten die Chance eröffnet, das Immunsystem zu stärken im Kampf gegen die grassierenden Pandemien, gleich ob diese Grippe- oder Corona-Pandemie genannt werden.

Was bleibt?

Gewiss die Hoffnung auf eine durch Disziplin, Einsicht und Rücksichtnahme auf Mitmenschen stark rückläufige Infektion von Tausenden und der damit einher gehenden Lockerung in der Ausgestaltung von Events und Veranstaltungen aller Größenordnungen. Aber eines jedoch ist nicht in Sicht: Der Schalter wird in den nächsten Wochen und Monaten nicht umgelegt werden können!

Geduld ist das erste Gebot, dem wir uns alle unterordnen müssen. Um Schritt für Schritt zurück zur Normalität zu kommen. Konzepte mit Weitblick sind gefragt, um vor allem das Rad im ambitionierten Freizeitsport wieder anzutreiben. Das Sahnehäubchen sind dabei die professionell arbeitenden Athleten, die uns immer wieder viel Freude bereiten, wenn diese zu Höchstleistungen streben.

Und dies auf dem Boden attraktiver Veranstaltungen mit begeisterungsfähigen Menschen vor und hinter den Kulissen. Und das geht freilich nur, wenn Vereine, Event-Agenturen, Verbände und Politik an einem Strang ziehen.

Wilfried Raatz

author: GRR