Deutsche 5.000-Meter-Meisterin Alina Reh (SSV Ulm 1846). - DM 2019 - Foto: Horst Milde
Langstreckenläuferin Alina Reh: Jägerin auf eigenen Wegen – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Im Gegensatz zu Konstanze Klosterhalfen will Alina Reh zeigen, dass sie auch in Deutschland zur Weltklasse-Läuferin reifen kann. Dafür beschreitet sie neue Wege. Der Bundestrainer steht hinter ih
Vielleicht gibt es die deutsche Antwort auf die Anziehungskraft amerikanischer Trainingsgruppen in der Leichtathletik längst: das Brandenburg Project. Alina Reh jedenfalls, gerade 23 Jahre alte Top-Läuferin von der Schwäbischen Alb, scheint ihren Lebensmittelpunkt derzeit nach Kienbaum verlegt zu haben.
In dem abgeschiedenen Ort mit nur 330 Einwohnern zwischen Berlin und polnischer Grenze liegt seit DDR-Zeiten ein riesiges Trainingszentrum. Tag für Tag dreht dort seit Wochen die U-23-Europameisterin ihre langen und längeren Runden, im Schnitt 163 Kilometer die Woche. Das entspricht bei freiem Sonntag gut 27 Kilometer täglich.
Ziel sind die Olympischen Spiele, die aufs nächste Jahr verschoben sind. Auf den 10.000 Metern will Alina Reh beweisen, dass sie auf der Weltbühne ein Wörtchen mitreden kann. „Ich habe mein Leben extrem danach ausgerichtet“, sagt sie. An diesem Samstag startete sie bei der Laufnacht in Regensburg, die der traditionsreichen Sparkassen-Gala an diesem Sonntag (13 Uhr) vorausging, in einem 5000-Meter-Rennen gegen Männer.
„Ich hätt’ gern die 14 Minuten da stehen“, nahm sie sich vor. „Das ist das Ziel, das ich seit zwei Jahren verfolge. Ich hoffe, dass es nun bald mal schnackelt.“ Vor zwei Wochen blieb Alina Reh bei fünf Kilometern auf der Straße 22 Sekunden über glatten 15 Minuten; auf der Bahn steht ihre Bestzeit seit einem Jahr bei 15:04,10 Minuten.
Leider vermasselte ein Wespenstich das Vorhaben, unter 15 Minuten zu bleiben: beim schnellen Tempo schwoll der Stich unterm Fuß immer stärker an, so dass die Läuferin nach etwa drei Kilometern das Rennen beenden musste. Die Regensburgerin Domenika Mayer siegte in 15:59,44 Minuten. Das Männerrennen gewann der Hanauer Aaron Bienenfeld in 13:45,75.
Anderer Entwurf als Klosterhalfen
Lange weigerte sich Alina Reh, ihre Heimat Laichingen selbst für Trainingslager zu verlassen. Dort wohnt sie immer noch bei den Eltern, arbeitet im Rewe-Laden der Mutter und kennt vom jahrelangen Training jeden Feld- und Waldweg der Umgebung. Gern nannte sie sich nicht teamfähig und erzählte, dass sie schon deshalb nicht weg könne, weil sie sofort Heimweh bekomme.
Damit war sie das Gegenmodell zur Weltmeisterschaftsdritten über 5000 Meter, Konstanze Klosterhalfen. Die Rheinländerin ist wie Alina Reh Jahrgang 1997 und wechselte 2018 von Leverkusen zum vielbeachteten Nike Oregon Project. Sie war das Gegenmodell zu Sprinterin Gina Lückenkemper, die einer Trainingsgruppe in Florida angehört, und auch zu Weitsprung-Weltmeisterin Malaika Mihambo, die auf dem Sprung nach Texas ist.
Im Januar übernahm André Höhne, der Männer-Bundestrainer für die Langstrecke, das Training von Reh. „Ich will Alina den nächsten Step weiterbringen“, verspricht der ehemalige Geher. „Vielleicht können wir ein Pendant darstellen zu den USA. Alle sagen immer: Amerika, Amerika, Amerika. Die haben nichts Besonderes. Vielleicht werden die Athleten in den Profi-Teams besser bezahlt, das hängt mit den Sponsoren zusammen.
Wenn ich höre: High Performance Center. Das haben wir hier auch. Kienbaum ist eines.“
Dort gebe es Laufhallen, Krafträume, Schwimmbäder, Läufbänder, Kältekammer und Kältebäder, Physiotherapie und medizinische Betreuung. „Besser geht’s drüben auch nicht.“
Heimatverbunden: Zu Hause kennt Alina Reh jeden Feldweg
Das klingt wie die Antwort auf Oliver Mintzlaff. Der Geschäftsführer des Fußball-Bundesliga-Vereins RB Leipzig berät freundschaftlich Konstanze Klosterhalfen, Nachbarstochter aus Bockeroth am Rhein. In den Vereinen Deutschlands sei die Leichtathletik stehengeblieben, begründete er vor anderthalb Jahren den Wechsel der Läuferin auf den Nike-Campus bei Portland in Oregon. In den Vereinigten Staaten gehe es „extremst innovativ“ zu. Ihre phänomenale Entwicklung demonstrierte Konstanze Klosterhalfen, bevor sie bei der WM in Doha im vergangenen Jahr Dritte über 5000 Meter wurde, bei der deutschen Meisterschaft in Berlin.
Als sie in einem bemerkenswerten Solo den deutschen Rekord auf dieser Distanz auf 14:26,76 Minuten verbesserte und alle Teilnehmerinnen überrundete bis auf eine: Alina Reh. Diese war nach 15:19,42 Minuten im Ziel, weinte bitterlich und konstatierte, „Koko“ sei Weltklasse, sie dagegen eher Regionalliga.
Nun soll alles anders werden. Zwei Drittel ihrer Zeit verbringe sie nicht mehr daheim, sagt Alina Reh. Doch die Corona-Pandemie hat nicht nur für den Ausfall der Europameisterschaft von Paris und die Verschiebung der Olympischen Spiele von Tokio gesorgt.
Auch die Trainingslager im kenianischen Hochland und in den Rocky Mountains, in Südafrika und den Schweizer Alpen, in die sie reisen wollte, sind nicht mehr möglich. Statt ins Höhentraining geht es nun in die Mark Brandenburg, zwischen Berlin und polnischer Grenze. Pikant, dass der DDR-Sport just dort eine unterirdische Sporthalle betrieb, in der bei reduziertem Luftdruck und Sauerstoffmangel Höhentraining simuliert wurde. Die Höhenkammer ist heute ein Museumsstück.
„Ich möchte Jäger Reh werden“
Nicht nur der Trainingsumfang ist um ein Drittel gewachsen. Alina Reh hat mit Krafttraining begonnen und koordiniert ihre Bewegungsabläufe neu. Der Fußabdruck soll sich verändern, die Achillessehne kräftiger werden. Sie benutzt einen neuartigen Karbonschuh ihres Sponsors Adidas. „Man läuft anders“, sagt sie. „Das tüfteln wir ein bisschen aus.“
Eine Honorierung, wie sie Nike in Amerika ihren Athletinnen und Athleten zukommen lässt, kann Alina Reh nicht erwarten. Sie hat sich deshalb entschieden, eine der gut tausend staatlichen Förderstellen anzunehmen. Im September beginnt sie in Hannover die Grundausbildung der Bundeswehr. „Ich möchte Jäger Reh werden“, scherzt sie über ihren ersten Dienstgrad. „Das ist mein Ziel.“
Ist dies die Antwort auf die Sponsoren-Projekte in Amerika?
Viele Leichtathleten dort fürchten, dass auslaufende Verträge wegen der Corona-Krise nicht verlängert werden; an den Hochschulen soll bereits das Sterben der Sportarten einsetzen, die nicht als Pool für Profi-Ligen gebraucht werden. Und so richtig neu sind Einzelbetreuung, Leben in Trainingslagern und Förderung durchs Militär, wenn man etwa auf Hindernis-Europameisterin Gesa Krause schaut, auch nicht. „Mir wurde nicht kommuniziert, dass ich Versuchsobjekt oder Vorzeigeathletin für ein solches Projekt bin“, sagt Alina Reh.
Sie verstehe, dass der Verband Position beziehen und zeigen wolle, dass man auch in Deutschland gute Athleten ausbilden kann, dass diese gute Trainer und gute Möglichkeiten haben.
Allerdings: „Am Ende kommt es nicht aufs Drumherum an, sondern auf den Athleten.“
Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Sonntag, dem 26. Juli 2020
Michael Reinsch Korrespondent für Sport in Berlin.