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08
2018

Christian Schenk bei den Leichtathletik Weltmeisterschaften Stuttgart 08.1993 Foto: Camera 4

„Ich hielt mich für den Attentäter Amri“ – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

By GRR 0

Christian Schenk wurde 1988 in Seoul Olympiasieger im Zehnkampf. Heute lebt der 53-Jährige auf Rügen. Seine Autobiographie „Riss – mein Leben zwischen Hymne und Hölle“ erscheint in diesen Tagen im Verlag Droemer.

Die Verlagsankündigung Ihrer Biogra­phie macht keine Umstände: „Ein Mann im Wahnsind deren erste Worte. Im ersten Satz ist von Ihrer bipolaren Störung die Rede, und es geht weiter mit Depression und Verfolgungswahn. Ist es Ihnen schwergefallen, für Rissmein Leben zwischen Hymne und Hölle“ enen so tiefen Blick in die Abgründe Ihrer Psyche zu erlauben?

Ich habe diese Probleme seit 2009. Es gibt neben den Tiefen auch Höhen, die manischen Phasen, in denen du die Welt umarmen möchtest, weil die Tiefen hin­ter dir liegen. Die Depressionen waren so tief gewesen, dass ich sogar daran ge­dacht hatte, meinem Leben ein Ende zu setzen. Um so dankbarer war ich, dass ich rausgekommen war. Aus diesen Auf und Abs ergab sich der Gedanke, dass auch an­dere unter dieser Krankheit leiden, dass aber vor allem es mir gut tun würde, dar­über zu sprechen.

Sie beschreiben, wie Sie sich in Zwangs­vorstellungen hineinsteigern. In einer sochen Situation können Sie gar nicht ereichbar sein, auch nicht für sich selbst. Wie sind Sie in Therapie gelangt?

2009 hat meine damalige Frau mich einweisen lassen, in Absprache mit Freun­den. 2016 hatte mein älterer Sohn so gro­ße Angst um mich, dass er mich in die Kli­nik gebracht hat. Beim vierten Mal habe ich mich selber an die Klinik gewandt, weil ich nicht mehr konnte.

Gab es Auslöser?

2009 war es ein beruflicher Rück­schlag. Ich hatte zur Leichtathletik-Welt­meisterschaft in Berlin mit meiner Agen­tur die Veranstaltungsreihe ,.Wiederse­hen der Legenden“ entwickelt. Dabei hat­te ich mich wirtschaftlich verkalkuliert. Ich war völlig erschöpft, als das vorbei war. Dass ich bis zur WM gestrahlt hatte, kann ein Anzeichen von Hypomanie ge­wesen sein. Dem folgte der physische und psychische Zusammenbruch. Die spätere Depression hat wohl auch die Scheidung von meiner Frau ausgelöst.

Die erschütterndste Beschreibung ist die von Ihrer verheimlichen Flucht vor der Polizei Silvester 2016… 

Ich hielt mich für Anis Amri, den Atten­täter vom Weihnachtsmarkt auf dem Breitscheidplatz. Das war für mich der Horror. Ich habe mich vollständig mit ihm identifiziert, ich glaubte, ich hätte den Lastwagen in den Weihnachtsmarkt gesteuert und all die Menschen getötet. Meine Ärzte und ich haben das bis heute nicht aufklären können.

Was hat diese Krankheit mit Ihrem Lben als Sportler zu tun mit den Belatungen, denen Sie ausgesetzt waren, und mit dem Doping, dem Sie sich unterzgen haben?

Ich habe immer versucht, mich zu ver­bessern; das war meine tägliche Arbeit als Leistungssportler. Das habe ich mit großer Passion getan und auch mit großer Hörigkeit.

Benutzen Sie das Wort Hörigkeit, um nicht Ihrem Trainer und Ihrem Vater de­ren Autorität vorzuwerfen?

Ich habe mich immer besser gefühlt , wenn ich geführt wurde. Das war in ei­nem System wie der DDR einfach. Als ich in der Bundesrepublik angekommen war, war ich auf Augenhöhe mit meinem Coach. Auch im Berufsleben habe ich immer Partner gesucht, die in dem, was ich machte, schon jahrelange Erfahrung hat­ten – vielleicht eher Mentoren, eher Meis­ter als Partner. Sie waren meist eine halbe Generation älter als ich.

Ihr Trainer hat Ihnen Oral-Turinabol verabreicht, und er hat Ihr Blut bestrahlen lassen. Sie deuten an, dass es noch mehr gewesen sein könnte.

Eher nicht. Das Dynvital, das wir stän­dig bekamen, war wohl nicht mit Steroi­den versetzt; sonst wären wir bei den Aus­reisekontrollen aufgefallen.

Sie wurden mit zwanzig erstmals gedopt?

1985. Für mich war das wie das Errei­chen der nächsten Stufe, fast eine Würdi­gung. Die Pillen zu bekommen, das bedeu­tete, dass ich in den Kader aufgenommen war, von dem besondere Leistungen er­wartet wurden. Niemand hat mit mir über Nebenwirkungen oder Risiken gespro­chen. Mein Vater nicht …

ein Mediziner ...

… und mein Trainer nicht.

Warum machen Sie Ihrem Trainer keine Vorwürfe dafür, dass er Ihnen Doping­ Mittel verabreicht hat?

Ich mache ihn nicht für meine Krank­heit verantwortlich, weil die Menge, die mir verabreicht wurde, so geringfügig war und weil dies eine Struktur hatte in der DDR. Er war Rädchen im Getriebe.

Heute wissen Sie mehr über die Folgen von Doping?

Die Doping-Opfer-Hilfe und deren Vor­sitzende Ines Geipel stellen einen Zusam­menhang dar von Oral-Turinabol und De­pression. Ich kann das von meiner Seite her nicht beweisen.

Haben Sie Zweifel?

Dadurch, dass die Zahl der Betroffenen so groß ist, kann ich von Zweifel nicht mehr sprechen. Aber ich habe mich nie als Versuchskaninchen empfunden, so wie es manchen Athleten gegangen ist. Ich habe eher daran gedacht, dass man als Top-Athlet ständig versucht, Grenzen zu verschieben, im Training und im Wett­kampf. Das kann in eine Manie ausarten.

Gab es vor 2009 Anzeichen von Depresson?

1993, nach der Weltmeisterschaft in Stuttgart, hatte ich eine lange Regenerati­onspause. Als ich im Dezember mit dem Training für die nächste Saison begann, machte ich einen Hopserlauf und brach zusammen. Ich hatte einen Bandschei­benvorfall mit Lähmungserscheinungen. Vier Monate später habe ich meine sportliche Laufbahn beendet. Weitere vier Wo­chen später sagte mein Arzt, dass wir ei­nen Psychotherapeuten hinzuziehen soll­ten; ihm war aufgefallen, dass ich mich von meinen Freunden zurückgezogen hat­te und nicht mehr aß. Es wurde eine Ent­lastungs-Depression diagnostiziert. Ich kam da gut raus, weil ich wieder mit dem Sport begann, einfach mit Läufen. Das war irritierend, denn ich hasste den Sport, den ich für die Situation verantwortlich machte, in der ich war.

Sie haben von 1985 bis mindestens zu den Olympischen Spielen 1988 Anaboli­ka zur Muskelbildung eingenommen. Manche Athleten beschreiben, dass sie sich damit stark, gar unbesiegbar fühl­ten. Hatte das für Sie unmittelbar eine psychische Wirkung?

Das kann ich nicht beurteilen. Mag sein, dass ich damals schon manische Pha­sen hatte, etwas, das man geradezu braucht, um das Mehr an Leistung zu be­wältigen. Das scheint auch bei Tiger Woods und Michael Jordan so gewesen zu sein, wie ich gelesen habe. Man trägt die­sen Energie-Aufwand nach außen, strah­lend, herausfordernd, überlegen. Aber das hat eben auch Folgen. Bis auf zwei Wochen Urlaub habe ich damals das gan­ze Jahr durchtrainiert.

Wie sind Sie mit Ines Geipel, der Vorsit­zenden der Doping-Opfer-Hilfe, ins Ge­spräch gekommen?

Ich hatte von einer Veranstaltung in Schwerin gelesen und mich darüber aufgeregt, dass ein Mediziner behaupte­te, Doping verkürze die Lebenserwar­tung um bis zu zwölf Jahre. Das fand ich empörend, und ich habe sie angerufen, da sie die Veranstaltung mitinitiiert hatte. Dazu kam, dass ich den Zusam­menhang zwischen Doping-Mitteln und Depression nicht wahrhaben wollte. Wenn man dann aber die Fakten erfährt von Frau Geipel, wird einem angst und bange.

Sie waren psychisch angegriffen in dem Moment?

Ja. In einer solchen Situation zu lesen, dass ein Arzt behauptet, mein Leben wer­de kürzer sein als das von anderen, das war ein Schlag ins Kontor.

Was ist die Konsequenz aus Ihren Ge­sprächen?

Das System, wie Leistungssport prakti­ziert wurde in der DDR, war perfide. Ath­leten von heute werden besser aufgeklärt und besser kontrolliert.

Betrachten Sie sich als Opfer von Do­ping?

Nein.

Bestreiten Sie den Zusammenhang von Doping und Ihrer Depression?

Ich kann das weder bestätigen noch be­streiten. Die Zahl von Menschen, die sich an die Doping-Opfer-Hilfe gewandt haben, ist enorm. Und die Erfahrung der Helfer dort ist entsprechend groß. Die Werte sind valide. Aber ich habe meine persönliche Geschichte als Athlet, auch während der akuten Erkrankung, nie als Fluch empfunden. Es war eher das Stre­ben nach immer mehr, nach immer Höhe­rem.

Sie empfinden Ihr Schicksal als selbst verschuldet?

Ohne Frage. Ich hatte meine Berater, und vielleicht ist es so, dass man sie in den manischen Phasen nicht hört.

Härter als Ihr Trainer war Ihr Vater

Mein Vater war leistungsorientiert.

Sportler, Mediziner, Sozialist er hatte in allem recht und fast immer Erfolg.

Sie haben vergessen, dass er eine Zeit­ lang obendrein den Kulturbund auf Use­dom geleitet hat. Er war in allem top.

Als Ihre sportliche Karriere vorbei war, hat er Sie dadurch bestraft, dass er fünf Jahre lang nicht mit Ihnen gesprochen hat. Wofür eigentlich?

Er wollte, dass ich mein Medizinstudi­um abschließe. Das habe ich nicht getan. Aber unsere einzige Möglichkeit zum Aus­tausch bestand während meines Weihnachtsbesuches. Ich habe mich ja auch nicht um seine Belange gekümmert. Er hatte seine Arbeit verloren und hat sich neu aufstellen müssen.

Die Gratulation Ihres Vaters zur Gold­medaille von Seoul fiel, wie Sie beschrei­ben, sehr sachlich aus und hatte einen Stachel

Das tat mir weh. Ich kam als Olympia­sieger nach Hause, und er sagte: Über die Hürden bin ich immer noch schneller als du. Er war 1955 DDR-Meister im Hürdensprint.

Er hat Sie nie umarmt?

Die Wärme, die in einer Familie herr­schen sollte, gab es bei ihm nicht. Ande­rerseits hat er uns sportlich alles ermög­licht. Wir Kinder konnten Ski fahren und segeln, was wir wollten. Aber Familie, erste Liebe, das waren nicht seine The­men. Alles war durch Sport definiert.

r die Stiftung Deutsche Sporthilfe ha­ben Sie das Elite-Forum entwickelt, eine Gesprächsreihe, in der Top-Sport­ler mit den Besten und Erfolgreichsten aus Wirtschaft und Kultur, aus Politik und Wissenschaft zusammengetroffen sind. Schien da der Anspruch Ihres Va­ters auf?

Seine Maxime: Lerne von den Besten. So habe ich es als junger Leichtathlet in Rostock gehalten, als ich mich an Ma­rita Koch orientierte. Nach der Wende lernte ich den Basketballspieler Detlef Schrempf  kennen. Der sagte auch: Man muss sich immer an den Besten messen. Darauf basierte die Idee des Elite-Fo­rums: sich mit den Besten auszutau­schen.

Nach nf Jahren wollte die Sporthilfe Sie oder die Veranstaltungen nicht mehr

Das war ein harter Schlag. Die Veran­staltung war erfolgreich, sie war beliebt, und sie machte ein Drittel meines Ge­schäfts aus. Solch ein wirtschaftlicher Rückschlag löst depressive Situationen aus; bei zwei meiner Depressionen war dies der Auslöser. Als Selbständiger hat man sofort Angst um die Existenz.

Sie haben die DDR vertreten und das ver­einte Deutschland, Ihre Klubs aus Ros­tock und Mainz, und Sie haben kein Ge­heimnis aus Ihrer schwierigen Lage ge­macht. Hat der Sport, die große Solidar­ –gemeinschaft, Ihnen geholfen?

Darum hat sich vor zwei Jahren mein Sohn bemüht.

Arvid Schenk, ehemaliger Torwart und heutiger Trainer.

Ich war so stolz auf ihn. So viel ich weiß, gab es einen einzigen Rückruf, vom Deutschen Leichtathletik-Verband. Ich habe nur noch zu einem Sportler von da­mals Kontakt, zu Hartwig Gauder …

Geher-Olympiasieger mit dem zweiten Herzen.

Darüber hinaus besteht mein Netzwerk aus Menschen, die nichts mit Sport zu tun hatten.

Vor und nach der Wende sahen Sie sich gezwungen, was Ihr Doping anging, zu lügen. Später haben Sie es beschönigt. Haben Sie sich selber erlaubt, sich mit dem Doping auseinanderzusetzen?

Vieles war im Umbruch, und die An­schuldigungen erfolgten sehr eindimen­sional. Deshalb war ich nicht bereit, die Wahrheit zu sagen. Unter den Athleten gibt es keine Gespräche darüber, was der eine genommen hat und was der andere.

Wenn Sie jetzt Vorbilder von früher treffen oder Mannschaftskameraden, Mari­ta Koch oder Torsten Voss, den Zweiten von Seoul 1988 und Weltmeister von 1987, sprechen Sie dann offen?

Das ist kein Thema, über das gespro­chen wird. Es ist durch die zeitliche Dis­tanz einfach nicht präsent.

Sind Sie der legitime Olympiasieger von 1988?

Ja, ich bin der Olympiasieger.

Trotz Dopings?

Trotz Dopings.

Sie haben niemanden betrogen?

Ich war in einem kompletten System, so dass ich einen Betrug gegenüber ande­ren nicht sehe.

Impliziert das, dass auch die anderen ge­dopt waren?

Ich kann nur für mich sprechen, für nie­mand anders.

Seoul 1988 wird immer mit dem Dping-Fall Ben Johnson verbunden sein. Ist dies die richtige Assoziation: Er ist aufgeflogen, viele andere, die ebenfalls gedopt waren, nicht?

Er ist positiv getestet worden. Ich nicht. Ich sehe den Makel, dass ich im vor­hergehenden Trainingsprozess unterstüt­zende Maßnahmen vorgenommen hatte. Dazu stehe ich.

Heißt das nicht, auch die letzte Konse­quenz zu ziehen?

Ich würde nicht die Olympia-Medaille zurückgeben.

Ihre persönliche Bestleistung waren 8500 Punkte. Bei der Europameister­schaft in Berlin vor wenigen Wochen hät­ten Sie damit gewonnen. Bei der Welt­meisterschaft von Stuttgart 1993 wur­den Sie damit Vierter. Bedeutet das, dass Sie sauber waren und dass Sie sau­ber stärker waren als fünf Jahre zuvor beim Olympiasieg?

Ja. Wir hatten genau deshalb im Septem­ber 1990 das Zehnkampf-Team gegründet mit einem eigenen Doping-Kontrollsys­tem. Bei so wenig Oral-Turinabol, wie ich genommen hatte, war mir klar, dass es auch ohne geht. Ich bin stolz, dass ich in diesem Umfeld eine Bestleistung aufge­stellt habe, und ich bin überzeugt, dass ich noch viel mehr Punkte hätte machen können. 1992 war ich in der Form meines Le­bens, konnte allerdings wegen einer Ellbo­genentzündung nicht speerwerfen. Dass ich nicht zu den Olympischen Spielen von Barcelona fahren konnte, war einer mei­ner stärksten sportlichen Rückschläge.

Was ist der Unterschied zwischen Zehnkampf heute und in der DDR?

Ich habe dreißig, vierzig Stunden, manchmal sogar 45 Stunden pro Woche trainiert. Wer das ausgehalten hat, war ganz vorne. Das macht heute keiner mehr, und das ist trainingsmethodisch heute auch nicht mehr nötig. Die Athle­ten heute sind viel, viel schneller, das ist der Wahnsinn. Ich war im Sprung und im Wurf stärker, aber wo ich 11,10 Sekunden gelaufen bin, über 100 Meter, laufen sie heute 10,40. Mit 8500 Punkten ist man heute meist solider Dritter. Das macht mich immer noch stolz.

Das Gespräch führte Michael Reinsch.

Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Dienstag, dem 28. August 2018

Michael Reinsch

Korrespondent für Sport in Berlin.

author: GRR