Hochsprung-Europameister Przybylko: Nicht immer sind 2,30 Meter drin - Bild: Victah Sailer
Hochspringer Przybylko: „Man muss auch versagen dürfen“- Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Der beste Hochspringer Europas hat seine Unbeschwertheit verloren. „Die Erwartungen machen mich kirre“, sagt Mateusz Przybylko vor der Hallen-EM und pocht auf das Recht auf einen schlechten Tag.
Als die Beine schmerzten und die Konzentration schwand, scherzte Mateusz Przybylko noch, dass dies wohl erste Alterserscheinungen seien. Doch mit Witzen kam er nicht zurück in seinen Alltag.
Vier Wochen Urlaub hatte sich der Hochsprung-Europameister gegönnt nach der erfolgreichsten Saison seiner erst 26 Jahre.
Seine Bestleistung hat er auf 2,35 Meter gesteigert und damit beim wichtigsten Wettkampf des Jahres, der Europameisterschaft in Berlin, die Goldmedaille gewonnen. Er scheiterte knapp daran, den deutschen Rekord von 2,37 Meter zu übertreffen, den Carlo Thränhardt vor bald 35 Jahren aufgestellt hat.
Und im Überschwang seiner Gefühle versprach er, dass er nicht eher aufhören werde zu springen, bis er den Rekord hat.
Wie leicht stellt man sich die Hallensaison eines solchen Überfliegers vor, der aus dem Urlaub in Bali zurückkehrt und zu Empfängen, Ehrungen und Fernsehsendungen eingeladen wird. Nichts davon bei Przybylko. Der beste Hochspringer Deutschlands hat seine Unbeschwertheit verloren.
„Die Erwartungen machen mich kirre“, sagt der schlaksige Athlet. Sie bedrücken und belasten ihn so sehr, dass er trotz seines Gewichtes von nur siebzig Kilo bei 1,95 Meter Länge nur noch mühsam vom Boden wegkommt.
Er brauche Hilfe, sagte er seinem Trainer Hans-Jörg Thomaskamp. Die Folge: „Seit Januar arbeite ich mit einem Mental-Coach.“ Nicht Überschwang und Hochgefühl müssten kanalisiert werden, was bei Ehrungen, Einladungen und Jubelstimmung zu erwarten wäre. „Nein, ich war im Tief“, sagt Przybylko. „Eltern, Freunde, alle sagen: Hey, du bist Europameister. Jetzt musst du Weltmeister werden und Olympiasieger. Und ich sage: Ich muss das nicht. Ich will das. Aber es ist nicht einfach, 2,35 Meter zu springen. Klar kann ich das – wenn ich mich gut fühle.“
Doch mit dem Wohlfühlen war es schwierig im Winter nach dem Höhenflug. Anfang Februar quälte sich Przybylko bei seinem ersten Wettkampf des Jahres in Karlsruhe über 2,22 Meter, wurde Sechster und war sicher, dass die Schmerzen im Sprungfuß Zeichen einer Verletzung seien. Tägliche Physiotherapie entspannten den Fuß, doch der Mangel an Techniktraining machte auch die deutsche Meisterschaft in Leipzig zu einem Kraftakt. „Ich habe mit meinem Körper gekämpft und gewonnen“, beschreibt Przybylko den knappen Sieg über seinen Trainingspartner Falk Wendrich mit 2,26 Meter. „Ich wollte den Titel, ich wollte die Norm für Glasgow, und ich wollte schmerzfrei springen.“
Hätte der Fuß geschmerzt, hätte er den Wettkampf abgebrochen. In Düsseldorf, drei Tage später, überwand er wieder 2,26 Meter. In Glasgow will er endlich seinen Anlauf richtig hinkriegen und nicht, wie bisher, ständig seine Ablaufmarkierung korrigieren. Gelinge das, seien 2,30 Meter drin – und damit wohl eine Medaille.
Am Samstag gilt’s.
„Mi familia“ steht tätowiert auf der Innenseite des linken Oberarms von Przybylko – Spanisch statt Polnisch, der Sprache seiner Eltern. Mutter Wioletta war Weitspringerin, Vater Mariusz Fußballspieler. Die beiden Brüder, Mateusz wie aus dem Gesicht geschnitten, sind Fußballspieler. Jacub stürmt für Turu Düsseldorf in der Oberliga, Kacper ist im vergangenen Jahr vom 1. FC Kaiserslautern in den Angriff von Philadelphia Union in der Major League Soccer in den Vereinigten Staaten gewechselt. Mateusz wird eine Woche nach dem Wettkampf in Schottland 27 Jahre alt werden. Zum Sommersemester beginnt er ein Studium in Maschinenbau.
Im Sport kämpft Mateusz Przybylko nicht allein um Höhe, sondern auch um die Hoheit über seine Leistung. „Man muss auch mal versagen dürfen“, sagt er. Im vergangen Jahr sei er nicht nur Europameister geworden, sondern habe in zwei Wettkämpfen nicht mehr als 2,18 Meter übersprungen.
Auf das Recht auf einen schlechten Tag pocht er auch im Jahr nach der Goldmedaille: „Du kannst nicht jeden Morgen aufstehen und sagen: Ich fühle mich so gut, ich werde heute 2,30 Meter springen.“
Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Freitag, dem 1. März 2019