„Täve“ Schur beim Interview im Ziel 1977. Links von ihm der damalige Gesamtleiter Bernd Will. - Foto: Fotoarchiv Hans-Georg Kremer
GutsMuths-Rennsteiglauf – 75 Kilometer in der „Knete“ – „Sie gehen vor allem anders.“ – Dr. Hans-Georg Kremer berichtet
Obwohl der GutsMuths-Rennsteiglauf spätestens ab 1975 bei der DDR-Sportführung nicht gerade auf großes „Wohlwollen“ stieß, fand er doch in den DDR-Medien eine vergleichsweise hohe positive Zustimmung.
Dies lag wohl auch daran, dass einige Journalisten, besonders der schreibenden Zunft, selber mitliefen. So auch Wolfgang Kirkamm, der schon beim Taschenlampenstart für die HSG Uni Leipzig an den Start ging und nach 9 Stunden und 38 Minuten in Neuhaus ins Ziel kam.
Insgesamt war er zehn Mal beim Rennsteiglauf dabei, davon vier Mal auf der langen Strecke.
Von seinem Lauf im Jahre 1977 durfte er für die legendäre und immer prominent illustrierte „Seite 18“ der „Wochenpost“ schreiben, was damals in der DDR wie ein „Ritterschlag“ für Journalisten galt. Der Rennsteiglauf von 1977 blieb aus zwei Gründen vielen Teilnehmern in bleibender Erinnerung: Es war wohl der Lauf in der frühen Rennsteiglaufgeschichte mit dem schlechtesten Wetter.
Vom Start bis zum Ziel gab es einen ständigen feinen Nieselregen und durchgängige Temperaturen unter 5°C; der zweite „Höhepunkt“ des 77er war, dass die DDR-Radsportlegende „Täve“ Schur mitlief. Er brauchte 6:52:20 für die 75km. Im Ziel kommentierte er den Lauf bei einem Fernsehinterview sinngemäß, „…das war ein sehr schwerer lauf, auf den man sich gut vorbereiten muss.“
Wolfgang Kirkamm, der am Start noch dachte, dass er den 17 Jahre älteren Gustav Adolf Schur, genannt Täve, sicher zeitmäßig schlagen könne, musste im Ziel eingestehen, dass dieser glatte eineinhalb Stunden schneller war.
Wolfgang Kirkamms Bericht unter der Überschrift: „75 Kilometer in der Knete“ werden wir nachfolgend wörtlich wiedergeben und nur durch einige Fotos anreichern.
„Zielfoto“ von Wolfgang Kirkamm aus dem Jahr 1976 — so glücklich sehen Finisher nach 8:24:18 h auf Platz 304 von 1086 Läufern aus.
Das Foto stammt aus dem Besitz von Wolfgang Kirkamm.
„Rennsteigläufer leben länger.“ Es beruhigt ungemein, das zu wissen, was die „Jägerstube“ aus Zella-Mehlis uns GutsMuths-Rennsteigläufern 1977 am Rondell in Oberhof – kurz vor dem langen Anstieg zum Beerberg – auf einem Transparent verkündete. Und ich war an dieser Stelle nach rund 50 Kilometern geneigt, den rennsteigerfahrenen Gastronomen Glauben zu schenken, denn das Ziel in Schmiedefeld lag in 25 Kilometer Entfernung ja schon zum Greifen nah.
Angefangen hatte dieser V. GutsMuths- Rennsteiglauf für mich (und sicher auch für viele andere) aber schon an einem Tag im vorigen Jahr, wohl im September. Da hatte mir die Post das 76er Ergebnisheft ins Haus gebracht. Nicht weiter aufregend. Nun wusste ich’s ganz genau: Platz 126. Vor mir Meinhard Ellrich aus Goldlauter. Hinter mir Henri Rücker aus Dresden und weitere 696 Läufer. Aber der Stempel auf dem Deckblatt hatte es in sich: „1977 ist der Lauf am 21. Mai.“
Da steckte so etwas verdammt Aufforderndes drin. Vergessen der zwischen Inselsberg und Heuberghaus am 15. Mai 76 gefasste Vorsatz: Nächstes Jahr sparst du dir diese Schinderei. Aufgeschoben die faule Ausrede: Mit dem Fahrrad mache ich mich auf, um mal so richtig auf der Strecke zu fotografieren.
Stattdessen öfter mal eine Runde zwischen Grünau und Eichwalde gedreht oder auf der Oderbruchkippe an der Leninallee, die bis auf die fehlenden Bäume bekanntlich einen idealen Ersatz für den Kammweg des Thüringer Waldes darstellt. Wer möchte das bestreiten! Diesen Weg auf den Höh’n bin ich oft gegangen…
Dann, im April, kommt die Startnummer: 618, Farbe beige.
Ein feuchter Schreck am Freitagmorgen, einen Tag vor dem Lauf. Es regnet. Eigentlich kann man schon von einer leichten Überschwemmung sprechen. Na gut.
Die Eisenacher Erich-Meder-Oberschule wird zu einem riesigen Nachtlager. Da treffen sich einige freudig erregt, die sich das letzte Mal im vorigen Jahr beim Kilometer 49 oder so ähnlich sahen. Andere schwören auf ein Thüringer Abendbrot – Bratwurst und Bier. Warum nicht auch noch ein kurzer Testlauf zur Wartburg hoch?
Und über allem liegt ein leichter Hauch von Vipratox, Rheunervol, Nicodan, Aspisathron – der für den Laien als Schlangengift bekannte Geruch oder wenn man will – Gestank.
Ein typisches Bild vor dem Start, hier 1981 auf der kurzen Strecke, waren die Einreibungsrituale.
Um neun geht das Licht aus in den meisten Klassenzimmern. Fünf Stunden später ist Wecken. Es nieselt. Kulthandlungen von nie gekanntem Ausmaß setzen ein: andächtiges millimetergenaues Aufsetzen der Startnummern. Ein Schluck vom Selbstgemixten, das für die nötige Kondition am Berg sorgen soll. Pflaster werden an allen möglichen und unmöglichen Stellen verklebt. Gegen manchen äußeren Aufzug würden Faschingskostüme glatt seriös wirken.
Und über allem dieser starke Hauch von Schlangengift.
Mit Bussen fahren wir zum Hotel „Hohe Sonne“, dem Startort. Es regnet. Bei fünf Grad ist zum Glück noch kein Schnee zu erwarten. Durch zentimeterhohe Pampe gehen wir zu den Lastwagen, die das Gepäck transportieren. „Ja, bitte, mit Zwischenlagerung am Grenzadler in Oberhof.“ Wer weiß, wie’s kommt.
Der Gastraum ist proppenvoll. Hier würden Psychologen Material sammeln können. Einer macht sich Mut und nimmt ihn anderen, indem er gruselige Geschichten vom vorigen Lauf erzählt. Marschtabellen werden überarbeitet, studiert und memoriert. Einer führt seine Geheimwaffe am Mann – sechs Rhabarberstangen gucken aus seiner Umhängetasche. Eine Stunde vor dem Start stehen die ersten Reihen – was ist dagegen ein Bäckerladen, in dem es frische Brötchen gibt?
Und über allem liegt ein durchdringender Hauch von Schlangengift!
In wenigen Minuten ist es fünf. Eine Rede stärkt uns allseitig. Dann der Startschuß, der eigentlich ein Kanonenschlag ist. Ein gewaltiger Schrei aus rund 2800 Männer- und einigen Frauenkehlen – der große Lauf hat begonnen.
Kurz nach dem Start 1977 an der „Hohen Sonne“
Vor mir sehe ich nur Füße und Beine: stampfende, tänzelnde, schlappende und sich ganz normal bewegende. Plastgamaschen, gestrickte, einbeinig und beidbeinig freie Waden. Manchmal geht der Blick auch hoch. Zum Beispiel zu dem Herrn im Frischhaltebeutel oder zu dem in den langen (noch) weißen Unterhosen.
Es regnet weiter. Die Waldwege sind schlammig, die reinste Knete. Man muss drauf achten, daß die Schuhe hinter den Füßen herkommen.
Nach zehn Kilometern, an der Glasbachwiese, kommen drei wichtige Punkte, die sich in dieser Form und Reihenfolge etwa alle zehn Kilometer wiederholen. Am ersten muss man anhalten: Kontrollpunkt. Ein Stempel bestätigt, daß man nicht vom offiziellen Pfad abgewichen ist. Denn, wie in einem gedruckten Merkblatt zu lesen ist: »Halten Sie sich unbedingt an die markierte Strecke, damit Sie sich Ungelegenheiten oder gar Umwege ersparen.« Das fehlt gerade noch!
Erster Kontrollpunkt auf dem langen Strecke
Am zweiten Punkt will man ganz kurz oder etwas länger stehenbleiben: Verpflegungspunkt. Die Auswahl ist groß und reicht von Tee, Schleim, Saft, Brühe. Milchsuppe über Bananen, Äpfel, belegte Brote (beides auf Wunsch auch in kleinen „Reiterchen“) und Wurst, zweimal sogar bis zu Bier. Der Tee schmeckt alle neunmal und jedesmal anders. Bier lehnen meine Geschmacksknospen wider alle sonstige Gewohnheit heftig ab. Und auch ein dritter Punkt kehrt immer wieder: der Med.-Punkt. Niemand ist böse, daß es dort die wenigsten hinzieht.
Aber: Über ihnen liegt ein Hauch von Schlangengift.
Zügig geht es zum Beerbergstein und zum Inselsberg hoch. Dicker Nebel und Nieselregen offenbaren hier ihre einzigen Vorteile: Es ist nicht gleich zu sehen, wie steil es noch wird. Laufen heißt die Devise. Die Errungenschaften der Zivilisation bedeuten fast nichts.
Schlamm, Nässe.
Die Kniegelenke beginnen in der Kälte etwas zu schmerzen. Na, nächstes Jahr ohne mich!
Ich überquere kurz nach neun Uhr die Ebertswiese nach vorheriger Salami-Stärkung. Ein Schild teilt mir mit, daß es bis ins Ziel noch 44 Kilometer sind. So was macht natürlich unheimlich Mut. Später verzichtet man zum Glück auf solche stark demoralisierenden Standelemente.
Am Verpflegungspunkt Wachsenrasen gab es Bananen, ungeschält und im Ganzen.
Ein echter Knüller wartet am Wachsenrasen.
In Schüsseln wird warmes Wasser für die Morgentoilette bereitgehalten. Am Grenzadler – 48 Kilometer sind geschafft – steht das Gepäck. Daß ein helfender Betreuer leicht erstaunt darüber ist, daß ich aus Gründen der zunehmenden Kälte nur den streikenden Tintenkuli gegen einen Bleistift austausche und nicht die Hosen wechsele, kann ich zwar verstehen, es ihm aber aus Zeitgründen nicht erklären.
Denn zum einen wartet die Fleischbrühe, und zum anderen erinnert mich der starke Hauch von Schlangengift daran, daß ich meine Gelenke für die letzte Etappe nochmal gängig machen wollte.
Siegerfoto, vermutlich 1977 auf der langen Strecke aufgenommen, eines Fotowettbewerbs beim Rennsteiglauf (siehe rechts)
Die Endzeit lässt sich nun schon auf die Viertelstunde genau einkalkulieren. Ambitionen auf das Grüne Trikot des Bergkönigs hege ich längst nicht mehr, als ich auf dem Großen Beerberg ankomme. „974 m. ü. M.“ steht hier oben, „höchster Punkt des Laufes“. Und nicht nur hier erinnere ich mich daran, wie schön der Rennsteig bei Sonnenschein ist. Heute beträgt die Sicht im günstigsten Fall gerade mal so hundert Meter.
An der Schmücke erlebe ich eine weitere der vielen liebevollen Aufheiterungseinlagen:
Weithin sind vier Bläser mit ihren Hirtenhörnern zu hören. Aus Brotterode kämen sie schon, erzählen sie mir, und da sie den Bus nach Schmiedefeld verpaßten, wanderten sie eben mit. Das Blasen ist so was wie eine alte Tradition. Früher gab’s ja noch den Hirtenwettstreit in Zella. Ursprünglich war das Ganze eine Sache der organisierten Waldhut. klärt mich einer der Männer umfassend auf.
Die Hirtenbläser, hier in Schmiedefeld, umrahmten auch die Siegerehrungen. (r.)
Auf jeden Fall rückt das Ziel immer näher. Eigentlich hatte sich alles gut eingepegelt, etwa seit dem Kilometer 30. Man überholt, man wird überholt, man überholt wieder, man unterhält sich ein wenig – immer die gleichen Gesichter.
Die Kilometerangaben 6,5,4,3,2,1 lassen nun aber noch einmal harte Positionskämpfe entflammen. Auf einmal gibt es im Vessertal auch wieder den sportlichen Ehrgeiz als Motiv für diesen Lauf, der bei so vielen inzwischen ganz nach hinten gerutscht war. Gerangel um den vielleicht 500. Platz nach rund 8 Stunden und 25 Minuten noch auf der Zielgeraden ich gebe zu, daß man sich das nur ganz schwer vorstellen kann, wenn man noch nie auf dem Schmiedefelder Sportplatz das Zielband sah.
Der vorläufig letzte Akt ist die Abgabe der Starterkarte, inzwischen elfmal gestempelt. Damit’s die Daheimgebliebenen auch glauben, bestätigt ein weiterer Stempel auf der Startnummer die Ankunft. Und der größte Lohn aller Mühen ist ein quadratzentimetergroßes silbernes Abzeichen: „V. GutsMuths-Rennsteiglauf 1977“.
Das farbig eingelegte Abzeichen gab es für Kampfrichteru und Helfer. (r.)
Nach Gulaschsuppe und warmer Dusche im FDJ-Zentralratsheim „Fritz Dressel“ (Schönen Dank!) beobachte ich noch ein wenig die Parade der seltsamen Gangarten. Das sei in der Entlastungsphase ganz normal, meint der Suhler Bezirkssportarzt Jörg Augusta. Er fügt noch hinzu, daß es ja immerhin fast ein beziehungsweise zwei Marathonläufe waren, die von den Frauen und Männern zurückgelegt wurden, wobei ein Marathon bekanntlich niemals über den Inselsberg oder den Masserberg führen würde.
Jener Läufer, welcher schon nach nur etwas mehr als fünf Stunden in Schmiedefeld ankam, der 29jährige Konstrukteur Dieter Wiedemann aus Hasenthal bei Sonneberg, versichert seine Achtung vor dem Letzten, der gegen 19 Uhr abgestempelt wird. So lange, sagt er, hätte er es, vor allem bei dem Wetter, niemals auf der Strecke ausgehalten.
Siegerehrung 1977, Platz eins: Dieter Wiedemann. (rechts)
Übernachtung ist in Suhler Turnhallen möglich, aber ich ziehe das Quartier-Angebot eines Bekannten vor: Ich fürchte, auch über den Nachtlagern gibt es ihn, diesen leichten Hauch von Schlangengift.
Viele Läufer fahren am nächsten Morgen mit dem D556 in Richtung Berlin. Sie sind leicht auszumachen. Denn Rennsteigläufer sehen nicht nur anders aus als gewöhnliche Reisende.
„Sie gehen vor allem anders.“
Dr. Hans-Georg Kremer
(Fotos: Fotoarchiv Hans-Georg Kremer)