Gunter Gebauer erzählt die Olympischen Spiele … auf 100 Seiten - Foto: FU Institut für Philosophie
Gunter Gebauer erzählt die Olympischen Spiele … auf 100 Seiten – Prof. Dr. Detlef Kuhlmann in der DOSB Presse
Achtung vor dem Gegner und Wertschätzung des Athleten als „gute“ Aufgabe
Die Olympischen Spiele 2020 von Tokio sind aus den bekannten Gründen auf das nächste Jahr verschoben. Wir werden in diesem Sommer keine Wettkämpfe per Bildschirm verfolgen können, auf die meist schon wenige Tage nach Beendigung der Olympischen Spiele vorliegenden Hochglanzbildbände auch.
Aber halt, da war noch was: Vor ein paar Wochen ist in der neuen Reclam-Reihe mit dem Titel „100 Seiten“ (mit dem bekannten gelben Einband) ein Heft über „olympische spiele“ erschienen. Auf der Coverseite werden in kleinerer Schrift weitere zu Olympia passende Begriffe aufgeführt, über die im Buch etwas erzählt wird: ethik des Sports, berlin 1936, terroranschlag, antike, tokio 2020, frauensport, weltrekord, eröffnungszeremonie etc. etc. – alles kleingeschrieben, sogar der Name des Autors.
Prof. Dr. Gunter Gebauer (geb. 1944), international renommierter Philosoph, Sportwissenschaftler und Linguist an der FU Berlin sowie 2018 Ethikpreisträger des Deutschen Olympischen Sportbundes, hatte u.a. schon mit seiner „Poetik des Fußballs“ (2006) und mit „Das Leben in 90 Minuten. Eine Philosophie des Fußballs“ (2016) breite Resonanz erzielt – mit „olympische spiele“ (2020) dürfte das nun nicht anders sein: Auf „nur“ 100 Seiten bringt uns Gunter Gebauer nun Olympia näher, lässt Aktive und Publikum ganz nah zusammenrücken, und das schon ganz zu Beginn sogar im privaten Rahmen:
Der Jugendliche Gunter Gebauer, selbst ehemaliger Leistungssportler im Weitsprung, lädt uns nämlich gleich auf Seite 1 ein zu sich nach Kiel in die elterliche Wohnung, wo er zusammen mit seiner Trainingsgruppe (die „B-Jugend“) und dem ein paar Jahre älteren Dieter, dem Trainer, die olympische Leichtathletik von „Rom 1960, vor dem Fernseher – als wir alles noch vor uns hatten“ (Überschrift des Kapitels) verfolgen durfte. Die meisten von uns werden sich selbst an solche Momente und Bilder der ersten Olympischen Spiele noch gut erinnern können.
Bei Gebauer heißen 1960 die olympischen (westdeutschen) Stars z.B. Armin Hary und Charly Kaufmann, eine Generation später sind es u.a. Heide Rosendahl und Ulrike Meyfarth: „Es war eine offene Welt, die sich in diesen Tagen vor uns auftat. Damals sahen wir nur den unverdorbenen Kern der Spiele“, schreibt Gebauer zwei Seiten weiter, aber einige Jahre später wird seine „unbekümmerte Haltung zum Sport“ bereits schwer erschüttert: „Hinter vorgehaltener Hand wurde von Doping gesprochen, von kleinen blauen Pillen“.
Der schmale Band, in dem Gebauer uns etwas über die wichtigsten Entwicklungen bei Olympia erzählt, besteht aus insgesamt neun kompakten Kapiteln. Seine klugen Schilderungen gehen zurück bis in „Die antiken Spiele“, spielen auch in „Zeiten des Kalten Krieges“, beschäftigen sich mit den „Frauen bei den Olympischen Spielen“ und sparen „Olympische Winterspiele“ ebenso nicht aus. Ganz am Ende geht es um „Die Olympischen Spiele heute – ethische Überlegungen“.
Da greift Gunter Gebauer noch einmal die alte Formel „Citius – altius – fortius“ von Coubertin auf als den wesentlichen Kern der Spiele: „Es geht um die Steigerung im quantitativen Sinn“. Aber – so analysiert er wenige Zeilen nüchtern weiter – dieses „Prinzip der Steigerung erzeugt keinen Sinn“, damit werden lediglich permanent aufs Neue beim Wettkampf Vergleichswerte von den Athletinnen und Athleten produziert.
Aber warum sind dann Olympische Spiele (noch) wertvoll?
Wodurch erlangt ein sportliches bzw. olympisches Ereignis Qualität, geschweige denn Sinn für die daran beteiligten bzw. interessierten Menschen? Gunter Gebauer arbeitet dazu die olympischen Werte (z.B. Fairness, Ritterlichkeit) ab und landet schließlich bei der Musik mit Beethovens IX. Sinfonie, die Coubertin bei den Olympischen Spielen stets aufzuführen wünschte. Sie sollte bei den Anwesenden stets das Gute erwecken und steht in Verwandtschaft zu Schillers Ästhetik des Spiels. Auf Seite 100 setzt Gebauer damit zum großen Finale seiner Schrift an und entwickelt daraus einen fundamentalen Gedanken für „Die Olympischen Spiele heute“ (Teil der Kapitelüberschrift), wenn nicht sogar weit über Olympia hinaus:
Wörtlich heißt es am Ende dieser 100. Seite dann: „Bei den Spielen kann ein Gutes entstehen, wenn man die Gemeinschaft zwischen den Menschen als eine Aufgabe versteht. Wenn man diese ernst nimmt, macht man die Begegnung, die sowohl zwischen den Athleten im Wettkampf als auch bei den Zuschauern entsteht, zu einer ethischen Beziehung“. Für die Sportlerinnen und Sportler bedeutet das wechselseitig „Achtung vor dem Gegner“, und das an Olympia interessierte Publikum applaudiert sodann mit „Wertschätzung des Athleten als Mensch“.
Mit beidem können wir – so Gunter Gebauer weiter – das Erbe Coubertins bewahren helfen. Eine zuversichtliche Einstimmung auf die Olympischen Spiele im nächsten Jahr ist das allemal – mehr noch: Unsere eigenen Vorbereitungen für Olympia können jetzt schon mit der Lektüre von Gebauers Band beginnen, sogar im Wohnzimmer, wo Gebauer einst den unverdorbenen Kern von Olympia kennenlernte, den er heute wieder großartig ins Spiel bringt!
Ein Nachtrag: Der Band von Gebauer ist in der Reclam-Reihe „100 Seiten“ erschienen, die wiederum in mehrere thematische Komplexe (z.B. Musik, Gesellschaft und Politik, Geschichte) unterteilt ist. Der Band von Gebauer gehört zum Segment „Literatur und Kultur“. Dazu zählen bislang 16 Bände z.B. über Vampire und Katzen, über Langeweile und Ovid. Selbst ein weiterer Sportband ist dabei: „fußball games“ widmet sich den Bildschirmspielen, also dem eSport.
Eine Frage ganz zum Schluss: Sollte man nicht gegenüber dem Verlag einmal anregen, eine eigene Reihe mit „100 Seiten“ zum Sport zu kreieren. Am Mangel geeigneter Themen für die einzelnen Bände dürfte das nicht scheitern, zumal der moderne (Vereins-) Sport ständig Neuigkeiten produziert, seit über 200 Jahren geht das nun schon so.
Und: 100 Seiten sind schließlich schnell geschrieben … und gelesen!
Gunter Gebauer: olympische spiele. 100 Seiten. Ditzingen 2020: Reclam. 100 S.; 10,- €
Prof. Dr. Detlef Kuhlmann in der DOSB Presse