Symbolbild - Foto: Hannover Marathon - eichels Event
GIRO D‘Italia – Super-Star Egan Bernal und seine Helfer in Münster – Von KLAUS BLUME
Er hatte Tränen in den Augen, als er sagte: „Ich kann es wirklich nicht glauben. Zu viele Dinge sind passiert. Aber dieser Etappensieg ist wirklich alles wert, was ich durchgemacht habe.“
Der Kolumbianer Egan Bernal schien im Ziel der 9. Etappe des 104 Giro d‘Italia völlig fassungslos. Noch voriges Jahr hatte der 24Jährige die Tour de France wegen kaum erträglicher Rückenschmerzen während der 17. Etappe verlassen müssen; seine unterschiedlichen Beinlängen hatten zu einem Bandscheibenvorfall geführt, der jenen Nerv störte, der vom Gesäßmuskel bis zu seinem Knie lief.
Am liebsten, so hieß es damals, wolle er – der Sieger der Tour de France 2019 – den Sport endgültig an den Nagel hängen.
Und nun dieses fantastische Comeback auf dem 104. Giro d‘Italia, und zwar in einer Art, die an die großen Legenden des Radsports erinnert, an den Bretonen Bernard Hinault und vor allem an den Italiener Gino Bartali. Ähnlich umsichtig aber auch souverän, wie diese einst Unbeugsamen, dirigiert auch Bernal sein Team und degradiert dabei die Konkurrenz – fast nach Belieben – zur Staffage. Dass so etwas überhaupt möglich wurde, verdankt der in den Bergen um Bogota aufgewachsene Bernal in erster Linie einem deutschen Sportwissenschaftler namens Daniel Schade in Münster und dessen vorzüglichen Team „gebioMized“. Schade betreut schon seit Jahren Bernal und dessen britische Equipe Ineos. Bernal ganz besonders in Sachen Sitzposition.
Bernal reiste denn auch nach seinem vermurksten Tour-Auftritt für einige Wochen nach Münster, wo ihn niemand wahrnahm, so dass er in aller Ruhe arbeiten konnte. Und wo es zunächst darum ging, „eine Sitzpositon zu bauen, die es ihm ermöglicht hat, überhaupt wieder zu trainieren“, resümiert Schade. Am Ende all‘ dieser Überlegungen hatte man drei Möglichkeiten entwickelt, die man allesamt auch auf der Straße getestet hat.
Am Ende dieser Versuche hatte man für Bernal eine Sitzposition entwickelt, die auch ein spezielles Muskulatur-Training ermöglicht hat. Die Effekte dieser in die Praxis umgesetzten wissenschaftlichen Arbeiten „werden wir vielleicht erst 2022 oder 2023 erst so richtig sehen“, prophezeit Freitag. Aber niemand solle Bernal deshalb auch in der Saison 2021 abschreiben. Als Bernal nun jetzt, in der ersten Woche des Giro, auftrumpfte, wie einst die historischen Radsport-Größen, hieß es in Münster, es gäbe bei Bernal freilich trotzdem noch Einiges zu entwickeln. „Da ist noch Luft nach oben“, frohlockt Schade.
Zumal Egan Bernal in Kolumbien – in der Nähe von Bogota – in einer Höhe von 2600 Metern aufgewachsen ist. Sein Vater war bereits Amateurrennfahrer, er selbst bekam sein erstes Rad mit fünf Jahren. Die Bedingungen, in denen er aufgewachsen ist und noch immer lebt, ähneln also denen in Kenia und Äthiopien, wo die Kinder meist im Gebirge leben und regelmäßig als künftige Läufer auf ihrem Schulweg trainieren. Die Sauerstoffaufnahme dieser Läufer ist nachweislich enorm hoch. Doch den wissenschaftlich ermittelten Wert bei einem Hochleistungssportler können nicht die Marathon-Stars aus Ostafrika, sondern Egan Bernal vorweisen.
Das Ausnahmetalent Bernal verschließt aber auch während des Giro seine Augen nicht vor den Übergriffen der kolumbianischen Regierung und der Drogen-Bosse. Unter dem Titel „SOS Colombia“ schrieb er jetzt auf Instagram: „Ich kenne die Sorgen vieler Familien, denn ich hatte sie früher auch. Es gibt Orte von extremer Armut, mit Gewalt, ohne Gesundheitssystem und Schulbildung. Wenn die Regierenden in ähnlicher Not wären wie viele, würden sie ihr Volk nicht derart auspressen.“
Er müsse sich zwar in diesen Tagen und Wochen auf seinen Job als Rad-Profi beim Giro d‘Italia konzentrieren, doch das Elend, die Korruption und Kriminalität in seiner Heimat beschäftige ihn allabendlich im Etappenhotel. Da dürfe man, als sogenannter Prominenter, keine Doppelmoral entwickeln.
Da müsse man sich einmischen.
Klaus Blume
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