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01
05
2021

Michael Reinsch - Foto: Horst Milde

Geringschätzung per Gesetz – Warum wird der Sport derart respektlos behandelt? Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

By GRR 0

Die „Notbremse“ bringt die Verbände zur Verzweiflung. Warum wird der Sport derart respektlos behandelt? Und: Warum wehrt sich der DOSB nicht dagegen?

Verwirrung und Chaos, Enttäuschung, Ärger und Bitternis – der Sport, seine Vereine und Verbände sind bei der Formulierung des neuen Infektionsschutzgesetzes böse unter die Räder geraten.

„Die Formulierungen sind zum großen Teil unklar, fallen einerseits hinter in einigen Ländern ohnehin schon geltende Verbote zurück oder gehen an anderer Stelle darüber hinaus“, klagt Christoph Niessen, Vorstandsvorsitzender des Landessportbundes (LSB) Nordrhein-Westfalen, mit knapp fünf Millionen Sportlerinnen und Sportlern in 18 000 Vereinen der größte in Deutschland. „Sie sind erkennbar zusammengestoppelt und offensichtlich ohne sportfachliche Kompetenz zustande gekommen.“

Wie Niessen geht es allen, die versuchen zu verstehen, was die Bundes-Notbremse im Sport zum Stehen bringt und was nicht. „Die Vorschriften sind grundsätzlich und im Detail ungeklärt“, ärgert sich Andreas Klages, Hauptgeschäftsführer des Landessportbundes Hessen. Seit einem Jahr ringen er und seine Kollegen mit Politik und Verwaltung darum, Kindern und Jugendlichen, Männern und Frauen, Senioren und Athleten, Teams und Einzelkämpfern zu ermöglichen, ihren Bewegungsdrang auszuleben, einander zu begegnen, sich fit zu halten.

„Die Erfahrungen des Vereinssport, die Regelungen und Verfahren, die sich bewährt haben“, muss er nach dem Votum von Bundestag und Bundesrat in der vergangenen Woche feststellen, „sind im politischen Berlin nicht präsent.“

Der erste Blick auf das „Vierte Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“, gültig seit Veröffentlichung am vergangenen Freitag, verblüfft schon durch seine Wortwahl. Da wird die Schließung von Badeanstalten vorgeschrieben, da werden zertifizierte Tests von Anleitepersonen erwartet. Man muss nicht von Weltfremdheit sprechen, doch große Distanz zum Gegenstand seiner Beschäftigung macht da jemand deutlich.

Nun wird gerätselt:

Sind Badeanstalten, wie man früher Einrichtungen der Körperhygiene nannte, dasselbe wie Schwimmbäder? Warum werden Spaßbäder und Hotelbäder genannt, nicht aber die Becken von Frei- und Hallenbädern? Ist es ein Versehen oder Absicht, Sport- und Tennishallen nicht aufzuzählen unter den Einrichtungen, die geschlossen werden müssen? Schleswig-Holstein, mit einem Inzidenzwert von weniger als hundert gesegnet, scheint bei der Umsetzung des Gesetzes als einziges Land die Regelung, dass Sport nur allein, zu zweit und mit den Angehörigen des eigenen Hausstandes erlaubt ist, den Buchstaben des Textes entsprechend sowohl auf draußen als auch auf drinnen zu beziehen.

Warum allerdings schreibt der Gesetzgeber vor, dass in dieser Konstellation ausschließlich Individualsport und dieser nur kontaktlos erlaubt ist? Tennis und Badminton, schon gar Einzel, bleiben erlaubt, drinnen wie draußen, Gymnastik ebenso. Volleyball am Strand aber ist, weil Mannschaftssport, selbst Familien unter sich verboten. Tanz, weil Kontaktsport, ist, selbst an der frischen Luft, nicht einmal denen erlaubt, die Tisch und Bett teilen.

Auf der Website bundesregierung.de steht: „Kinder bis 14 Jahre können draußen in einer Gruppe mit bis zu fünf anderen Kindern kontaktfrei Sport machen.“ Mit fünf anderen? Dürfte bedeuten: insgesamt sechs. Das Gesetz aber schreibt vor, dass es lediglich fünf sein dürfen, bis höchstens dreizehn („bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres“). Dass in dieser Konstellation nicht einmal Spielchen drei gegen drei möglich sind, ist einerlei, denn der Staat schreibt den Sport „in Form kontaktloser Ausübung“ vor.

 

Symbolbild – Kinder und Jugendliche brauchen Sport – Foto: Horst Milde

Die Ausnahme für die Handvoll Kinder, auf die die Sportpolitik so stolz ist, bleibt weit hinter der etablierten Praxis zurück. An der frischen Luft war in Berlin bislang Sport für zwanzig Kinder erlaubt, bis einschließlich vierzehn. Immerhin: In Berlin wie in Baden-Württemberg hat die Exegese des Gesetzestextes ergeben, dass es möglich ist, auf einem Halbfeld vier Fünfergruppen trainieren zu lassen, auf einem ganzen Fußballplatz acht. Agieren sie ohne Durchmischung und kontaktfrei, sollten ein, zwei Trainer reichen.

Diesen Anleitungspersonen wird allerdings ein tagesfrischer, negativer und anerkannter Test abverlangt – vor jedem einzelnen Training. Bei der Vorstellung, die Trainer und Übungsleiter müssten sich täglich in die Warteschlange einer Teststelle einreihen, prophezeit Thomas Härtel, der Präsident des LSB Berlin, kämen Amateur- und Breitensport zum Erliegen. Er verlangt, ihnen wie Lehrern Selbsttests zu ermöglichen: „Man muss Trainern trauen.“

„Die Liste der Unwuchten ist lang“, sagt der Hesse Klages. „Sport ist ein so vielfältiges Handlungsfeld, dass man dessen Regelung in Sprache und Systematik aus ihm heraus denken muss.“

Die fehlende Sorgfalt bei der Erstellung des Gesetzes deutet hingegen auf mangelnden Respekt vor diesem gesellschaftlichen Bereich hin.

„Ob Corona-Regeln als plausibel verstanden werden, macht sich auch am Sport fest“, sagt Klages. „Wenn aber Nachvollziehbarkeit und innere Stimmigkeit in solchem Maße fehlen wie in diesem Fall, ist das Anwenden des Rechts mehr als misslich, und darunter leidet die Anerkennung. Hätten wir die Formulierungen im Gold-Standard, wäre dies ein wichtiger Beitrag zur Anerkennung.“ Dieses Gesetz lasse aber den umgekehrten Effekt befürchten. „Ein Akzeptanzproblem“, warnt Klages, „strahlt in die Gesellschaft.“

Härtel sagt es so: „Der Sport erhält in seiner gesundheitlichen Wirkung und seiner gesellschaftlichen Bedeutung nicht die angemessene Anerkennung. Er bekommt nicht die Chance, als Teil der Lösung wahrgenommen zu werden. Das ist sehr, sehr bitter.“

Unverständlich ist auch, dass allein Kinder von den Restriktionen ausgenommen werden, die den Sport lähmen. Es hätte kaum mehr als einen Federstrich gekostet, das Verbot auch für Senioren aufzuheben. Bewegung hält sie mobil, hält sie gesund, hält sie womöglich am Leben. Noch dazu holt Sport sie aus der Isolation und ermöglicht ihnen gesellschaftliche Teilhabe. Die allermeisten Betroffenen sind noch dazu geimpft. „Wir müssen deutlich machen, dass Sport die dritte Impfdosis ist„, sagt Patrik Zimmermann vom Landessportverband Baden-Württemberg.

Reha-Sport, in den Änderungsanträgen noch vorgesehen, hat es als eigener Begriff nicht ins Gesetz geschafft. Er muss, will man ihn von den Verboten ausnehmen, als Dienstleistung definiert werden, die medizinischen, therapeutischen, pflegerischen oder seelsorgerischen Zwecken dient. Auf Basis dieser zu Missverständnissen einladenden Formulierung sollen offenbar Ordnungs- und Gesundheitsämter im Einzelfall tätig werden.

In Berlin ist Reha-Sport wie in vielen Ländern auf Intervention des LSB von den Verboten ausgenommen. Nun kämpft der Sport darum, auch das Schwimmen als Therapie und zur Prävention zuzulassen. „Und was ist mit Schulschwimmen?“, ruft LSB-Präsident Härtel. Bis zu einer Inzidenz von 165 bleiben Schulen geöffnet; Schwimmenlernen ist Teil des Lehrplans. Ergo: „Ich erwarte, dass Schwimmbäder geöffnet werden.“ Das Chlor im Wasser soll eine Infektion verhindern.

Boris Schmidt, Vorsitzender des Freiburger Kreises und damit Sprecher von mehr als 180 Sportvereinen mit tausend Mitgliedern und mehr, spricht aus Lebenserfahrung: „Die Vierzehnjährigen, die Siebzehnjährigen bleiben doch jetzt nicht zu Hause. Sie gehen raus und verstoßen – verständlicherweise – x-fach gegen das Gesetz.“ Warum erlaube man ihnen nicht, die bewährten Angebote der Vereine wahrzunehmen, fragt er. Genauso sei es mit den jungen Menschen von zwanzig bis dreißig: „Sie lassen sich nicht einsperren. Sie tun vermutlich viel Riskanteres als das, was Sportvereine anbieten. Freizeit mit Sport wäre vernünftiger als Freizeit ohne Sport.“

Der verordnete Bewegungsmangel schaffe gesellschaftliche Probleme: in gesundheitlicher, schulischer und sozialer Hinsicht. Dies verändere den Blick auf die Politik. „Man realisiert: Sport wird nur in Sonntagsreden hochgehalten“, sagt Schmidt. „Zusammenhalt, Gesundheit – auf einmal ist das alles vom Tisch. Das führt zu unendlich viel Frust.“ Auch er ist in Sorge: „Was macht dies mit dem Demokratieverständnis der Bevölkerung?“

Dem Berliner Härtel liegt Alarmismus zwar fern. „Verantwortung liegt in den Genen des Sports“, sagt er. „Wir sind keine Wutbürger. Aber mir macht zunehmend Sorge, welches Maß an Bitterkeit ich spüre.“

Das mangelnde Verständnis des Bundes für den Sport drückt sich auch darin aus, dass der Gesetzgeber allein Privatpersonen und Wirtschaftsunternehmen kennt, nicht aber ehrenamtlich geführte Strukturen. Das ist in den Ländern anders. Womöglich hat das damit zu tun, dass die Landessportbünde in der Breite des politischen Geschehens präsent sind, der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) aber nicht.

Der Dachverband sei in die Diskussion zum Infektionsschutzgesetz viel zu spät, zu unkonkret und ohne die notwendige Schlagkraft eingestiegen, wirft ihm Niessen vor. „Wir brauchen keine ständigen Kassandrarufe, sondern ein gezieltes Einwirken auf die Bundespolitik mit konkreten Formulierungsvorschlägen für entsprechende Vereinbarungen auf der Arbeitsebene, flankiert durch Druck auf der parlamentarischen Ebene“, fordert er.

„Die Landessportbünde könnten das über ihre Parlamente und Fachministerien unterstützen. Aber dieses gezielte Zusammenführen von Sportdeutschland findet nicht statt, weder initiativ noch auf Anfrage.

Wir bleiben der schlafende Riese.“

Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Montag, dem 26. April 2021

Michael Reinsch

– Korrespondent für Sport in Berlin.

 

 

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