Brückenschlag von Deutschland nach Schottland: Glasgow und Berlin teilen sich die Wettbewerbe - Foto European Athletics
European Championships : Gegengift zum Fußball – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Sechs Sportarten wollen mit ihren parallel ausgetragenen Europameisterschaften in Glasgow und Berlin mehr Fernsehzuschauer anlocken.
Der deutsche Sport nimmt sich die European Games zum Vorbild.
Paul Bristow fiel eines Tages etwas Merkwürdiges auf: „Kinder tragen eigentlich nur noch Fußball-Trikots.“ Er hatte noch erlebt, dass der britische Lauf-Held Steve Ovett die Medaillen mitbrachte, die er in den siebziger Jahren und bei den Olympischen Spielen von Moskau 1980 gewonnen hatte, wenn er Freunde in seiner Heimatstadt Brighton besuchte. Auch die Familie Bristow gehörte zu denjenigen, auf deren Wohnzimmertisch Ovett die Trophäen legte.
Seitdem war für Paul klar, dass seine Zukunft im Sport lag. Beim Leichtathletik-Weltverband (IAAF) und in der Agentur T.E.A.M. lernte er das Geschäft der Vermarktung und erlebte in den neunziger Jahren mit, wie Lennart Johansson, der Präsident des Europäischen Fußballverbandes (Uefa), gegen den Widerstand von Klubs und Verbänden aus dem Europapokal der Meister die Champions League machte.
Ausgerechnet in Berlin lernte Bristow damals Marc Jörg kennen. ZSKA Moskau hatte im März 1993 seine Champions-League-Partie gegen Olympique Marseille aus klimatischen Gründen ins Berliner Olympiastadion verlegt, und der Schweizer war Marketing-Direktor des Wettbewerbs. Beide waren sich schnell einig, dass praktisch alle Sportarten außer Fußball zunehmend das Problem hatten, einen Platz im Fernsehprogramm zu finden. Als Verantwortlicher für Sportrechte bei der European Broadcasting Union, bei der er später zehn Jahre lang war, fand Jörg die These bestätigt.
In dieser Woche soll Wirkung entfalten, was Bristow und Jörg seit 2010 praktisch als Gegengift des Sports zum Fußball entwickelt haben: die European Championships.
Diese Zusammenfassung der Europameisterschaften in Leichtathletik und Schwimmen, Rad und Rudern, Turnen, Triathlon und Mannschafts-Golf schafft ein neues Großereignis, das mit eigenem Logo, zwei Maskottchen, elf Tagen Programm, 188 Entscheidungen und knapp 4800 Teilnehmern mehr Fernsehzuschauer finden soll als die Summe der einzelnen Europameisterschaften.
Übertragungen auf olympischem Niveau
„Wir haben die europäischen Zuschauerzahlen von Weltmeisterschaften mit denen von Olympischen Spielen verglichen und haben gesehen, dass Olympia fünfmal so viele Zuschauer hat, obwohl es dieselben Athleten sind“, sagt Jörg. „Das ist die Macht der Zusammenlegung.“ In der Qualität der Wettkämpfe und der Übertragungen versprechen er und sein Partner nicht weniger als olympisches Niveau.
Auch das Beispiel der Wintersport-Übertragungen im deutschen Fernsehen, wenn an langen Sonntagen von allen möglichen Weltcups berichtet wird, hat Bristow und Jörg von der Macht der Zusammenlegung überzeugt. Sie scheint auch nun zu wirken. ARD und ZDF versprechen rund hundert Stunden Live-Berichterstattung. „Die Möglichkeit für so vielseitige Übertragungen hat man sonst nur im Rahmen von Olympischen Spielen“, sagte ARD-Sportkoordinator Axel Balkausky am Montag.
Die beiden öffentlich-rechtlichen TV-Sender übertragen von Freitag an zehn Tage lang im Wechsel. „Das ist ein Experiment“, sagte ZDF-Sportchef Thomas Fuhrmann. „Wir hoffen, dass unsere Zuschauer das Erfolgsrezept des Wintersports im Fernsehen nun auch im Sommer annehmen.“ Zusammen sind die Sportlerinnen und Sportler nur auf dem Bildschirm.
Die Leichtathleten tragen ihre Titelkämpfe dort aus, wo sich die Erfinder der European Championships begegneten: im Olympiastadion von Berlin.
Sie beginnen damit am Dienstag kommender Woche, am 7. August. Die übrigen sechs Sportarten auch noch zu beherbergen war Berlin zu viel – wo hätten die Organisatoren zusätzlich mehr als doppelt so viele Hotelzimmer finden sollen, wie sie jetzt schon bereithalten rund um den Breitscheidplatz im Berliner Westen, wo die Siegerehrungen stattfinden werden?
Schotten beleben Commonwealth-Dorf wieder
Die Schotten, die ihr Image als einstige Kriminalitätshauptstadt Europas mit allen Mitteln bekämpfen, haben das Athletendorf der Commonwealth-Spiele 2014 wiederbelebt. So kommen Einwohner, Besucher und vor allem Fernsehpublikum nicht nur in den Genuss konventioneller Meisterschaften in Schwimmhalle, Velodrom und zur Turnhalle umfunktioniertem Messegebäude; zusätzlich gibt es Rudern, Schwimmen und Triathlon im Strathclyde Country Park südlich der Stadt, Radrennen auf Sandpisten und den Straßen der Stadt sowie die neugeschaffene Mannschafts-Europameisterschaft der Golfer am G-8-Treffpunkt Gleneagles.
Das Budget der Leichtathletik-Europameisterschaft in Berlin beläuft sich auf 36 Millionen Euro. Das von Glasgow ist fast dreimal so hoch; es beträgt 90 Millionen Pfund (102 Millionen Euro).
Ursprünglich wollten die beiden Macher Handball, Volleyball und Basketball mit ins Boot holen. Doch die Spielsportarten ließen sich nicht überzeugen. Die Golfer dagegen kreierten ihren Mannschaftswettbewerb, um dabei sein zu können. „Europäer freuen sich über Erfolge in Europa genauso wie über Medaillen bei der WM“, sagt Jörg über die Resonanz, die er erwartet. Fußball mit der Europameisterschaft sei der beste Beleg. „Dazu kommt, dass wir hier praktisch alle in einer Zeitzone sind und mehr Teams teilnehmen können als bei Weltmeisterschaften.“
Elf Beschäftigte hat die European Championships Ltd. mit Sitz in Nyon in der Schweiz. Dem Eindruck, sie privatisierten die Europameisterschaften der wichtigsten Sportarten, widersprechen Bristow und Jörg. „Wir haben das Copyright an unserem Namen und am Logo. Aber wir haben keinerlei Rechte am Sport“, sagt Jörg. „Was wir besitzen, hat keinen Wert, wenn wir nicht die Verbände davon überzeugen, dass sie Vorteile haben.“
In vier Jahren, versprechen sie, sollen die nächsten vereinten Europameisterschaften über die Bühne gehen, in einer oder in zwei Städten.
Das Konzept wirkt so überzeugend, dass es im nächsten Jahr vereinte deutsche Meisterschaften geben wird. Mit Leichtathleten und Schwimmern, mit Turnern, Triathleten und Radrennfahrern tun sich Boxer, Bogenschützen, Kanuten und Moderne Fünfkämpfer zusammen.
Bei den „Finals 2019“ werden nach Angaben der Organisatoren am ersten August-Wochenende in zehn Sportarten 194 Meistertitel in 155 Disziplinen vergeben.
Und wo findet die Championats-Woche statt?
In Berlin, wo sonst? „Das ist wie eine nationale Olympiade“, sagte Kanu-Olympiasiegerin Franziska Weber.
Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Mittwoch, dem 1. Juli 2018
Michael Reinsch – Korrespondent für Sport in Berlin