Es gibt nur eine Gesundheit - Foto: Universität Zürich- UZH
Es gibt nur eine Gesundheit – Universität Zürich – UZH
«One Health» ist im Gesundheitswesen zum Schlagwort geworden. Der Veterinärmediziner Roger Stephan und der Humanmedizinier Jan Fehr erläutern, was sich hinter dem Begriff verbirgt. Und machen deutlich, dass die Bekämpfung von Infektionskrankheiten und anderen Leiden bei Mensch und Tier nur gelingen kann, wenn ihre und weitere Disziplinen zusammenarbeiten.
Worum geht es bei «One Health», was für ein Gesundheitsverständnis verbirgt sich dahinter?
Roger Stephan: Der Begriff One Health drückt aus, dass die Gesundheit nur durch einen umfassenden Ansatz zu erreichen ist. Im Vordergrund steht die Zusammenarbeit von Human- und Veterinärmedizin, involviert sind aber auch weitere Disziplinen wie die Umwelt- oder Sozialwissenschaften. Der Begriff ist eine Weiterentwicklung des Begriffs One Medicine, den der Mediziner Calvin Schwabe Mitte der 70er-Jahre etabliert hat.
Jan Fehr: Massgebend ist der integrierende Ansatz, der zum Beispiel beim Kampf gegen bedrohliche Epidemien wie Ebola und Schweinegrippe oder gegen Antibiotikaresistenzen zum Tragen kommt. Wenn die verschiedenen Disziplinen näherrücken, können Synergien genutzt werden und es entsteht in vielerlei Hinsicht ein Mehrwert. So können auch Kosten gespart werden.
Welche Konsequenzen hat One Health in Ihrem Arbeitsalltag?
Stephan: Das Konzept hilft mir, die Zusammenhänge und Schnittstellen zu sehen. Als Veterinärmediziner habe ich es oft mit infektiösen Erregern zu tun, die eben nicht nur Tiere, sondern auch Menschen befallen können. Rund 60 bis 80 Prozent der Infektionskrankheiten beim Menschen haben ihren Ursprung im Tier; wir sprechen von Zoonoseerregern. Das macht die Bedeutung des Tiers als Reservoir deutlich.
Fehr: Meinem Departement Public Health ist das Zentrum für Reisemedizin angegliedert. Für mich als Spezialist für Infektionskrankheiten und Reisemediziner ist der Blick über den Tellerrand nötig, nicht nur der auf Patienten.
Wenn wir Krankheiten diagnostizieren, interessieren wir uns für die Erreger, die Infektionsquelle, die Übertragungswege und machen uns Gedanken darüber, wie wir die weitere Verbreitung verhindern. Wichtig ist die Vorbereitung auf mögliche Ausbrüche, damit wir nicht überrascht werden. Allerdings ist das sehr schwierig, denn neue oder mutierte Keime können eine unglaubliche Dynamik entfalten.
Warum wird One Health gerade jetzt thematisiert, zum Beispiel in den strategischen Grundsätzen der UZH?
Fehr: Die verschiedenen Epidemien und Pandemien in den vergangenen Jahren haben uns vor Augen geführt, wie schnell neue Erreger ausbrechen und zur globalen Bedrohung werden können. Ich erinnere an die Atemwegserkrankung SARS, die sich 2003, ausgehend von einer infizierten Person in der Guangdong-Provinz in China, innert weniger Wochen in 39 Ländern verbreitete. Bei dem gefährlichen Erreger handelte es sich um ein Virus, an dem in kurzer Zeit viele Menschen starben. Eine der Ursachen ist die rasant steigende Mobilität. Wir können heute innerhalb eines Tages um die halbe Welt reisen. Die Globalisierung zwingt uns, das Konzept von One Health stärker als bisher umzusetzen. Man könnte anstelle von One Health auch von Global Health sprechen.
Stephan: Nicht nur Menschen reisen heute mehr als früher, auch Güter und vor allem Lebensmittel werden weltweit ausgetauscht. Der globale Handel von Lebensmitteln ist heute auch ein wichtiger Grund für die weltweite Verbreitung von Erregern und Keimen.
Fehr: Und die Erreger reisen mit. Das zeigt eine kürzlich erschienene Studie des Robert-Koch-Instituts, die in Zusammenarbeit mit der Universität Münster entstanden ist. Die Forscher untersuchten 400 Türklinken in 136 Flughäfen in 59 Ländern. Dabei fanden sie importierte multiresistente Bakterien, zum Beispiel einen gefährlichen Stamm in Paris, mit einem Resistenzmuster, wie es in Indien vorkommt. Das ist besorgniserregend, weil wir immer weniger wirksame Antibiotika zur Verfügung haben.
Antibiotikaresistenzen sind ein Paradebeispiel für den Ansatz von One Health. Warum?
Stephan: Vereinfacht gesagt, weil Bakterien und ihre Resistenzen zwischen Tier, Mensch und Umwelt ausgetauscht und übertragen werden können. Dabei fördert der über-mässige Einsatz von Antibiotika in allen Bereichen die Selektion von Resistenzen. Der Verbrauch der Wirkstoffe in der Tiermedizin hat somit Folgen für die Humanmedizin und umgekehrt. Die molekularen Prozesse sind im Detail sehr komplex, aber ohne ein Verständnis der Vorgänge im Human- und Veterinärbereich lässt sich das Problem der Resistenzen nicht in den Griff kriegen. Das geht nicht ohne eine enge Zusammenarbeit. Sie ist die Voraussetzung dafür, dass man kosteneffektiv und effizient intervenieren kann.
Fehr: Wir können in diesem Bereich auch viel von der Veterinärmedizin lernen. Die Veterinäre habe es geschafft, den Einsatz von Antibiotika in den vergangenen Jahren stetig zu verringern. Zwischen 2008 und 2017 ist der Verbrauch um rund die Hälfte zurückgegangen. In der Humanmedizin hingegen ist der Verbrauch in den Spitälern im selben Zeitraum um 16 Prozent gestiegen.
Aha, ich dachte immer, der Antibiotikaverbrauch in Landwirtschaft und Veterinärmedizin würde steigen?
Stephan: Nein, in der Schweiz zumindest ist er in den letzten sieben Jahren deutlich gesunken. Was kritische Fragen zum hohen Verbrauch in der Vergangenheit provozieren könnte. Aber was immer auch die Gründe waren: Die sinkenden Zahlen zeigen, dass die ergriffenen Massnahmen Wirkung zeigen. Dies stellt einen wichtigen Beitrag im Sinne des One-Health-Gedankens dar. Die Anstrengungen müssen aber noch weiter gehen.
Wie könnte die Humanmedizin von den Erfolgen der Veterinärmedizin profitieren?
Fehr: An erster Stelle steht der zurückhaltende und korrekte Einsatz. Antibiotika sollen nur dann eingesetzt werden, wenn man davon ausgehen kann, dass sie wirksam sind. Diese Richtlinie wird leider nicht immer eingehalten, zum Beispiel bei Erkältungen, wo oft zu leichtfertig Antibiotika verschrieben werden, obwohl meist Viren die Verursacher sind und nicht Bakterien.
Stephan: Um den Antibiotikaverbrauch noch besser in den Griff zu kriegen, muss man wissen, wo und warum welche Wirkstoffe in welchen Mengen verabreicht werden. Erst mit diesen Kenntnissen kann man zielgerichtet intervenieren. Das belegen unsere Erfahrungen in der Veterinärmedizin. Eine aktuelle Studie in der Humanmedizin in der Schweiz zeigt, dass die meisten Antibiotika von den Hausärzten verabreicht werden. Hier wäre also einzuhaken. Ein weiterer Aspekt betrifft die Umwelt: Wir wissen zum Beispiel erst seit Kurzem, dass sich antibiotikaresistente Bakterien in Abwasserreinigungsanlagen sogar anreichern können. Aufgrund der Interaktionen ist es wichtig, dass die Resistenz- und Verbrauchsdaten der Human- und Veterinärmedizin in einem gemeinsamen Bericht zusammengefasst sind. Erst so werden die Zusammenhänge deutlich. Das wird in der Schweiz seit Kurzem im Rahmen der StAR-Initiative (Strategy on Antibiotic Resistance) gemacht. Der gemeinsam von Bundesamt für Gesundheit und Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen publizierte Bericht bietet einen Mehrwert. Dazu brauchte es aber einen grossen politischen Druck.
Fehr: Der jüngste StAR-Bericht vom November 2018 ist ein gutes Beispiel und zeigt, dass das Konzept One Health lebt und bei den Behörden angekommen ist. Zum ersten Mal in der Schweiz wurde in diesem Bericht eine Analyse durchgeführt, die human- und veterinärmedizinische Daten vergleicht.
Bis jetzt haben wir über Infektionskrankheiten gesprochen, gibt es auch andere Bereiche für One Health?
Stephan: Strategien von One Health sind natürlich auch in anderen medizinischen Bereichen von Bedeutung, zum Beispiel bei Krebs. Tumoren zählen nicht nur beim Menschen, sondern auch beim Tier zu den wichtigsten Krankheiten. Es gibt Bestrebungen, gemeinsame Krebsregister anzulegen, da man daraus mehr über die Krebsentstehung lernen könnte.
Was erhofft man sich davon?
Stephan: Es geht um gemeinsame Ursachen von Krebs-erkrankungen. Denken Sie an Haustiere, die denselben oder ähnlichen Umwelteinflüssen wie ihre Besitzer ausgesetzt sind. Entsprechende Untersuchungen wären hochinteressant. Und das gilt auch für andere Krankheitsbereiche. Die Veterinär- und die Humanmedizin könnten in diesen Bereichen viel voneinander lernen und profitieren.
Fehr: Weitere wichtige Themen, die über Infektionskrankheiten hinausgehen, sind der Klimawandel und die Umweltverschmutzung. In Indien hat die Luftverschmutzung 2017 über eine Million Menschenleben gefordert, wie eine im Journal ‹The Lancet› veröffentlichte Studie zeigt.
Was bedeutet der One-Health-Ansatz für die Universität als Institution, also für Lehre und Forschung? Braucht es strukturelle oder institutionelle Anpassungen?
Fehr: Es braucht an der UZH primär kein Institut für One Health. Dies könnte im Gegenteil in eine Sackgasse führen, weil sich die Verantwortung leicht abgeben und delegieren liesse. Es braucht das Bewusstsein um One Health, eine Plattform des Austauschs und eine universitäre Strategie, die diesen Austausch fördert.
Ich möchte als Beispiel unsere Kooperation mit der Makerere-Universität in Kampala, Uganda, erwähnen. Dort führten wir 2014 ein Symposiumzum Thema «One Health from different perspectives» durch. Daraus sind viele Projekte in Nord und Süd entstanden und regelmässig ein Symposium alle zwei Jahre – das nächste, ‹Global Health Challenges: What’s next?› findet im Herbst (9. – 11. September) an der UZH statt.
Stephan: Ich bin auch der Meinung, dass es nicht primär um neue Institute und strukturelle Anpassungen geht. Sondern darum, den Austausch zwischen den beiden Disziplinen auf allen Ebenen weiter voranzutreiben und gemeinsame Ziele zu verfolgen. Dies könnte man natürlich bei Projektvergaben auch über einen finanziellen Anreiz oder definierte Rahmenbedingungen steuern.
Die Vetsuisse-Fakultät ist dabei, den Bereich Veterinary Public Health, einen Teil von One Health, noch sichtbarer zu machen. Mit einem Forschungsschwerpunkt könnten wir die assoziierten Fachbereiche noch näher zusammenbringen.
Die Veterinärmedizin wird in der Öffentlichkeit weniger wahrgenommen als die Humanmedizin. Spielt beim Schlagwort One Health auch der Gedanke mit, der Disziplin mehr Anerkennung zu verschaffen?
Stephan: Nein, das sicher nicht. Aber die Veterinärmedizin leistet einen wesentlichen Beitrag zum One-Health-Konzept. Unsere Disziplin wird häufig rein kurativ gezeigt, was nur einen Teil der Aufgaben und Tätigkeiten abbildet. Die Veterinärmedizin ist seit ihren Anfängen fest mit dem präven-tiven Gesundheitsschutz des Menschen verbunden.
Fehr: Sehr einverstanden. Das liegt mir, einem präventiv denkenden Mediziner, natürlich sehr am Herzen.
Stephan: Wissen geht schnell verloren, denken Sie an die Tollwut. Weil die Krankheit bei uns nicht mehr vorkommt, vergessen die Leute die Bedeutung der Impfung bei Tieren und Menschen. Das ist problematisch, denn im Ausland kursiert das Virus teilweise noch, und jeder neue Infektionsträger trägt zur Weiterverbreitung bei. Das heisst, wir müssen die Bedeutung von Infektionsketten und ihre Unterbrechung besser deutlich machen. Dafür wächst angesichts des Klimawandels die Liste der von Vektoren übertragenen Krankheitserreger; dazu zählen das West-Nile-Virus und das Zika-Virus.
Fehr: Tollwut ist ein gutes Beispiel. Wir müssen die Gefahr als Ganzes betrachten und überlegen, wie wir beschränkte Mittel maximal gewinnbringend einsetzen. Das kann bedeuten, dass man zwischen einer Impfung für Tiere oder Menschen entscheiden muss und dass es in gewissen Situationen sinnvoll ist, kombinierte Teams von Tierärzten und Humanmedizinern für gemeinsame Impfprogramme einzusetzen. One Health hat in solchen Fällen konkrete Folgen.
Ein Seitenblick zur Pharmaindustrie: Dort findet gerade eine Änderung der Strategie in die andere Richtung statt. Namhafte Firmen wir Novartis, Bayer oder Pfizer veräussern ihre tiermedizinischen Abteilungen und konzentrieren sich auf die Humanmedizin. Was sagen Sie dazu?
Stephan: Ich würde das den Firmen nicht vorwerfen, diese Entscheide erfolgen primär aus wirtschaftlichen Überlegungen. Die Rendite ist viel kleiner verglichen etwa mit Wirkstoffen gegen Krebs. Aus den gleichen Gründen sind viele grosse Firmen auch nicht mehr bereit, antimikrobielle Wirkstoffe für den Humanbereich zu entwickeln.
Was wäre zu tun?
Fehr: Es braucht neue Ideen für Anreizsysteme, um die Pharmaindustrie zur Entwicklung kommerziell wenig interessanter Produkte zu motivieren. Hier sind wir alle gefordert. Eine Möglichkeit wäre zum Beispiel ein One-Health-Franken aus dem Gesundheitssystem, der für solche Entwicklungen investiert werden könnte.
Die Gesprächspartner:
Jan Fehr, Prof. für Gesundheit und Reisen, Leiter Departement Public Health am Institut für Epidemiologie, Biostatisitik und Prävention
Roger Stephan, Prof. für Lebensmittelsicherheit und Hygiene, Leiter des gleichnamigen Instituts, Dekan Vetsuisse-Fakultät