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2020

Robert Harting - Robert Harting warf sich die deutsche Fahne um die Schultern und flog mit seinen 130 Kilogramm Körpergewicht, verteilt auf gut zwei Meter Länge, leichtfüßig über die zierlichen Hindernisse, die für das Finale der Frauen vor der Haupttribüne aufgestellt waren.- - Foto: 2012 London Olympic Games London, England Aug03-12 2012 Photo: Victah Sailer@Photo Run Victah1111@aol.com

Eruption der Qual – London 2012: Der Schmerz war für den Diskuswerfer Robert Harting das kleinere Übel. Er musste um seine Identität als Sportler kämpfen. Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

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Die stärkste Erinnerung an London 2012? Der Hürdensprint. Robert Harting warf sich die deutsche Fahne um die Schultern und flog mit seinen 130 Kilogramm Körpergewicht, verteilt auf gut zwei Meter Länge, leichtfüßig über die zierlichen Hindernisse, die für das Finale der Frauen vor der Haupttribüne aufgestellt waren.

Kein Bild hätte Glück und Erleichterung des Diskuswerfers aus Berlin besser illustrieren können, die ihn am Abend jenes 7. August 2012 erfüllten. „Ich erinnere mich mehr daran als an den Wurf“, sagt auch er heute über seinen Olympiasieg.

„London war das Krasseste. Es war keine Überraschung, sondern alles hat darauf hingedeutet. Das hieß: Es gab keine Freiheit. Es war klar, dass es nur diese eine Straße gab.“

Harting spricht von einem Schmerzensweg. Drei Jahre lang trainierte er mit einer chronisch entzündeten Patellasehne. Die Schwellung am Ansatz des Schienbeinkopfes war so dick wie ein Starkstromkabel. Die Ärzte warnten, dass die Sehne reißen und dies den Athleten für immer zum Invaliden machen könnte.

„Du gehst da rein und weißt: Dieser Schmerz ist nur die erste Etage“, erinnert sich Harting: „Das Haus hat fünfzehn Etagen.“ Ganz oben in diesem Hochhaus der Qual kam er bei der Weltmeisterschaft im Jahr zuvor in Daegu an, als er den Titel zum zweiten Mal gewann. Erstmals war er 2009 in seiner Heimatstadt Berlin Weltmeister geworden; 2013 in Moskau sollte er es zum dritten Mal werden. All diese Erfolge wären nichts wert gewesen ohne den wichtigsten aller Titel, den Olympiasieg.

Deshalb ließ sich Harting 2011 operieren. Der Schmerz blieb. Wenn er sich am Knie stieß, sprang der Schmerz ihn an, und Harting wusste, dass dies nur der Anfang war. „Schmerz ist eine der verschiedenen Sprachen in der Kommunikation mit deinem Körper“, sagt er: „Belastungsschmerz, Verletzungsschmerz et cetera.“

Erst 27 Jahre alt war Robert Harting auf dem Höhepunkt seiner langen Karriere. Dennoch erinnert er in seinem epischen Ringen an den Fischer Santiago, den Helden in Hemingways Erzählung vom alten Mann und dem Meer. Wie der Diskuswerfer spricht auch der Fischer mit seinem Körper. Hämisch erlaubt er beim tagelangen Kampf mit dem riesigen Marlin seiner linken Hand, sich zu verkrampfen: „Es wird dir nichts nützen.“ Er erkundigt sich nach ihrem Befinden und isst einen Happen für sie. „Da übt der eigene Körper Verrat an einem“, klagt Santiago. Und später: „Also los, Hand. Bitte mach mit.“ Als er sich verletzt, konstatiert er:

„Schmerz hat für einen Mann keine Bedeutung.“

Der Satz könnte von Harting stammen. Dies war die Haltung, mit der er in seine Wettkämpfe ging. Ausgerechnet, als es um alles ging, den Olympiasieg, klappte nichts. Das Publikum, 80 000 Zuschauer auf den steilen Tribünen, störte ihn. Die Kampfrichter gingen ihm auf die Nerven. Und sein Körper drehte sich nicht, wie er sollte. Es würde ihm nichts nützen. „Ich hatte den Kehlkopf auf der Zunge“, erinnert sich Harting. „Die Waden waren fest. Der Fuß war nicht beweglich. Technik war nicht mehr vorhanden.“ Nach vier mediokren Versuchen zwang er Arm und Oberkörper zu einem Wurf, die Beine mussten der Bewegung folgen, und die Scheibe flog 68,27 Meter weit. Die Bestleistung seiner Karriere, 70,66 Meter, fast zweieinhalb Meter mehr, hatte er drei Monate vor London aufgestellt.

„Es hat gerade so gereicht“, sagt Harting. „Ich bin so froh, dass ich das hinbekommen habe.“ Die Vorstellung, dass er in diesem Moment den Siegwurf nicht hätte erzwingen können, dass all seine Opfer vergebens gewesen wären, erlaubt er sich bis heute nicht. In der schlimmsten Qual sagte er sich damals: „Da gehst du durch. Denn der Schmerz war das kleinere Übel im Vergleich dazu, neu beginnen zu müssen und meine Identität als Sportler zu verlieren.“

Und dann war er am Ziel und flog über die Hürden. In London wurde Harting erster deutscher Olympiasieger in der Leichtathletik seit zwölf Jahren, seit den Goldmedaillen der Weitspringerin Heike Drechsler und dem 800-Meter-Läufer Nils Schumann von Sydney 2000. „Das geile Gefühl, die Goldmedaille zu haben“, erinnert er sich, „das Essen wieder zu schmecken, zufrieden zu sein, weil man sich richtig entschieden hatte. Das hat mich süchtig gemacht.“ Robert Harting wollte ein solches Hoch noch einmal erleben. Er wollte eine zweite olympische Goldmedaille.

Diesmal sagt der Körper nein

Doch auf dem langen Weg von London 2012 nach Rio 2016 verlor er die Gefolgschaft seines Körpers. „Im Herbst 2015 habe ich zum ersten Mal erkannt, dass er mir gegenübersteht und ich keine Chance habe“, erzählt Harting. Das war neu, das erschütterte ihn, aber es war keine Überraschung.

Nicht ihre Körper unterscheiden die großen Athleten von den anderen. Große Athleten können ihren Körpern Leistungen abverlangen, zu denen andere Menschen nicht in der Lage sind. Jeden Tag habe er mit seinem Körper gesprochen, erinnert sich Harting. Nach dem Aufwachen sei er liegen geblieben und minutenlang alle Leitungen im Körper durchgegangen und habe da schon erfahren, wo sich später im Training Grenzen zeigen würden. „Ich habe nicht im Befehlston mit meinem Körper gesprochen. Aber schon so, dass ich keine Erwiderung erwarte, wenn ich sage, was zu tun ist“, sagt er. „Worauf ich mich nie verlassen konnte, sind Sehnen und Bänder. Worauf ich mich verlassen konnte, war die Paarung meiner Maximalkraft mit dem Geist. Da konnte ich immer was rausholen. Die Muskeln waren meine Freunde.“

Ob es darum gehe, sich als der Beste in dem Sport zu beweisen, den man liebt, oder ob man so viel Prämien und Preisgeld wie möglich gewinnen wolle – ihn habe weder das eine noch das andere angetrieben, sagt Harting. „Mir ging es um Respekt, um Anerkennung, eigentlich um Einfluss. Einfluss denen gegenüber, die mir das nicht zugetraut hatten, die mir die Freiheit verwehrt hatten, sei es durch Förderungen, sei es durch menschlichen Zuspruch.“

Wäre er nicht Olympiasieger geworden, Harting hätte sich als gescheitert betrachtet. Mit der Goldmedaille allerdings fühlte er sich unzureichend belohnt. Seinen Werbewert hatte eine Agentur schon vor dem Olympiasieg auf eine halbe Million Euro taxiert. Als er die Trophäe in Händen hielt und feststellte, dass sie nicht einmal wirklich aus Gold bestand, realisierte er auch, dass er gar nicht mit so vielen Sponsoren zusammenarbeiten konnte, dass die halbe Million zusammenkam, die er als gerechten Lohn ansah. Olympiasieger etwa aus dem armen Griechenland bekamen eine halbe Million als Prämie vom Staat.

Die Analogie zu dem Fischer Santiago, der von dem Riesenfisch nur das Gerippe nach Hause bringt, liegt auf der Hand. Achtzehn Fuß, fünfeinhalb Meter war der Marlin lang. Die anderen Fischer messen staunend nach, und der Barbesitzer sagt respektvoll: „So einen Fisch hat es noch nie gegeben.“ Der alte Mann steht zwar mit leeren Händen da, aber alle erkennen seine Leistung an. Harting empfindet diese Anerkennung. Er sei immerhin Olympiasieger, sagt er, nicht nur Goldmedaillengewinner, der lediglich für die Statistik zählt. Ihn kennt die Öffentlichkeit mit Gesicht und Namen und Verletzungen.

Dreimal ist er zum Sportler des Jahres gewählt worden. Das Studium der Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation an der Universität der Künste in Berlin hat er mit dem Master abgeschlossen, Harting hat sich als Marke etabliert. „Ich war nicht massentauglich“, sagt er. „Mein Naturell hat Mainstream nicht hergegeben.“ Mittlerweile leitet er die Vermarktungsagentur BTR (Brands Talents Rights), die er als Sportler gegründet hat.

Das Ende der sportlichen Laufbahn war erreicht, lange bevor Robert Harting sich in Rio im Olympischen Dorf auf dem Bett streckte, um mit dem Fuß das Licht auszuschalten, und dabei einen Hexenschuss erlitt. „Das war, als wären Oberkörper und Unterkörper voneinander getrennt.“ Mit viel Schmerzmittel intus ging er in die Qualifikation und scheiterte. Zwei gültige Versuche gingen auf exakt 62,21 Meter – Platz neun in Gruppe B. Sein Bruder Christoph, sechs Jahre jünger und sechs Zentimeter länger, erreichte mit der drittbesten Weite das Finale und übertraf dort im sechsten und letzten Versuch den bis dahin führenden Polen Piotr Malachowski, Roberts langjährigen Erzrivalen. Auf 68,37 Meter schleuderte der jüngere Bruder den Diskus im Stadion des Fußballvereins Botafogo, zehn Zentimeter weiter als der ältere vier Jahre zuvor in London. Das zerrüttete Verhältnis der beiden wurde deutlich, als Christoph Harting einen Journalisten aus der Pressekonferenz warf, der ihn versehentlich als Robert ansprach.

Drei Tage im Rollstuhl

Für Robert Harting blieb die Erlösung durch Adrenalin in Rio aus. Was sich lange abgezeichnet hatte, war eingetreten. Als 2013, ein Jahr nach London, sein langjähriger Trainer Werner Goldmann in den Ruhestand ging, gewann er Thorsten Schmidt für dessen Nachfolge. Gemeinsam mit seinem Bruder Christoph und der ehemaligen Junioren-Weltmeisterin Julia Fischer, heute seine Ehefrau und Mutter von Zwillingen, entstand eine Trainingsgruppe von überwältigendem Potential.

In dem stickigen Ambiente von Kraftraum und Werferhaus im Sportforum von Berlin-Hohenschönhausen erwuchsen aus der familiären Konstellation Zwist und Streit. Es war kein Zufall, dass Robert Harting 2014 beim Joggen dort stürzte und sich schwer verletzte. Das Bein, das die Rotation seines Wurfes zentrierte, war so verdreht, dass der Fuß nach außen stand. Als er darüber stolperte, erlitt er einen Kreuzbandriss. „Das haut mich nicht um“, nahm sich Robert Harting vor, noch als er am Boden lag. Aber das war nur sein Kopf, der sprach. Der Körper wusste sich zu wehren.

„Sport, Verletzung, Bruder, Studium“, zählt Robert Harting auf. „Ich kriegte die Puzzleteilchen nicht mehr zusammen.“ Als es an die Vorbereitung der Olympiasaison 2016 ging, in der er sein Comeback gab, kulminierte die Krise in einem Hörsturz. Wenige Tage nachdem er 31 Jahre alt geworden war, stellte Robert Harting beim Aufwachen fest, dass er nur noch den rechten Arm bewegen konnte, sonst nichts. Erstmals spricht er nun öffentlich darüber. Mit starken Gleichgewichtsstörungen und permanenter Übelkeit wurde er in die Unfallklinik gebracht; drei Tage lang saß er im Rollstuhl. Harting verstand die Sprache seines Körpers: „Dies war das Signal: Alle Ressourcen sind erschöpft.“ Es erscheint nur konsequent, dass dem Hörsturz eine Meniskusverletzung und ein Riss der Brustmuskulatur folgten; dann ging es nach Rio.

„Aber der Mensch ist nicht dafür gemacht, sich besiegen zu lassen“, lässt Hemingway Santiago sagen. „Man kann einen Mann vernichten, aber nicht besiegen.“ Im Jahr nach Rio wurde Robert Harting zum zehnten Mal deutscher Meister.

Bei der Europameisterschaft 2018 im Berliner Olympiastadion gab er seinen Abschied. Ein halbes Jahr noch schmerzte die Sehne im rechten Knie, erzählt er. Seitdem sei er ohne Beschwerden.

Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Freitag dem 7. August 2020

Michael Reinsch

Korrespondent für Sport in Berlin.

 

RETTET UNSERE LÄUFE – SAVE THE EVENTS – Foto: Victah Sailer

„Rettet unsere Läufe“ – Wir brauchen jede Stimme, um den Laufsport zu retten. Helfen Sie bitte mit und beteiligen Sie sich an der Petition!

Hier geht es zur Petition:

https://www.openpetition.de/petition/online/save-the-events-o-rettet-unsere-laeufe

 DANKE für Ihre HILFE!

 

 

author: GRR