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26
05
2020

Die „Geschichten einer Fußpflegerin“ (Untertitel) von Katja Oskamp (geb. 1970) spielen zweifelsfrei im von ihr so „geliebten“ (Ost-)Berliner Stadtbezirk Marzahn. Das steht schon so im Titel, und der Einband unterstreicht plastisch, wofür Marzahn steht: Plattenbau mit Balkonpflanzen. - Foto: Verlag

Episoden vom Sport in belletristischer Literatur – drei neuere Beispiele: Über den ersten Sprung vom 10er, Handball und den Traum von der Spartakiade – Prof. Dr. Detlef Kuhlmann stellt vor

By GRR 0

Zugegeben: Ein Buch mit dem Titel „Marzahn mon Amour“ assoziiert man nicht sofort mit einem sportlichen Geschehen. Bei „Das letzte rote Jahr“ dürfte das geradezu ähnlich sein. Doch was ist mit einem „Katzensprung“ als Buchtitel?

Ist das vielleicht doch zumindest eine für Insider geläufige Bewegungsform aus dem Kinderturnen oder der Leichtathletik? Kann es sein, dass so ein Sportthema nun belletristisch aufbereitet wird? Alles falsch!

Die drei neueren Bücher, die hier in aller Kürze präsentiert werden sollen, haben etwas ganz anderes gemeinsam: Sie sind keine „reinen“ Sportbücher, weder Sportbiografien, noch Sportromane oder sonst eine literarische Bauform mit Sport. Aber dennoch verbindet sie der Sport: Alle drei Beispiele beinhalten zwischendurch nämlich „Episoden vom Sport“. Mehr noch und dies: Alle drei Bücher spielen vorzugsweise im längst abgeschlossenen sozialistischen Sportmileu. Um dies alles jedoch freizulegen, muss man die Bücher erst mal ganz lesen … daher jetzt der Reihe nach:

Die „Geschichten einer Fußpflegerin“ (Untertitel) von Katja Oskamp (geb. 1970) spielen zweifelsfrei im von ihr so „geliebten“ (Ost-)Berliner Stadtbezirk Marzahn. Das steht schon so im Titel, und der Einband unterstreicht plastisch, wofür Marzahn steht: Plattenbau mit Balkonpflanzen. Die Autorin lässt im Grunde ihre Kundinnen (z.B. Frau Guse) und Kunden (z.B. Herrn Hübner) sprechen, während sie deren Füße pflegt. Sie befragt sie natürlich nicht per se nach ihren sportlichen Biografien. Warum auch? Es geht schließlich erst mal um Pediküre. Die Gespräche begleiten nur diese handwerkliche Körperarbeit und sie bieten den Rahmen für Erzählungen – manchmal sogar mit Episoden aus dem Sport.

So wie bei Herrn Pietsch (geb. 1941), studierter Lehrer für Geschichte und Mathematik aus der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät, dann FDJ-Bezirksleitung Thüringen und danach ab1981 SED-Kader in Berlin, der Hauptstadt der DDR bis 1989. In dieser Funktion, so schreibt Katja Oskamp auf Seite 31 weiter, fuhr Herr Pietsch „zu Kongressen ins sozialistische Ausland und begleitete DDR-Delegationen zu Olympischen Spielen. Ich habe nie begriffen, worin genau seine Arbeit bestand.“

Den Porträts aus der Fußpflegepraxis ist ein Kapitel über den „Betriebsausflug“ (ab Seite 79) gewidmet. Hier ist die Autorin zusammen mit ihrer Kollegin Flocke und der Chefin Tiffy für einen Tag gemeinsam „betrieblich“ unterwegs. Die Reise geht von Marzahn nach Bad Saarow. Sie sind also auf den Spuren von Max Schmeling (1905-2005), der dort von 1930 bis 1938 wohnte und im Juli 1933 seine Anny Ondra (1902-1987) heiratete. Aber davon ist im Buch gar nicht die Rede. Dafür erfahren wir ganz andere konkrete sportbiografische Details der drei Damen: „Im Geplauder stellt sich heraus, dass Tiffy und Flocke in ihrer Jugend Handball gespielt haben, während ich in der Leichtathletik und beim Volkstanz aktiv war. Tiffy hat nach siebenundzwanzig Jahren wieder angefangen mit dem Handball, in der Zweiten Frauenmannschaft des SV BVB 49 Berlin-Lichtenberg“. Außerdem besucht Tiffy mit ihrem Mann Tanzkurse und joggt am Sonntag durch Marzahn, während Frau Oskamp zweimal in der Woche ins Fitnessstudio geht und dort am liebsten Step-Aerobic macht. Fazit: Zwei Drittel des ausschließlich weiblichen Personals dieser Fußpflegepraxis treibt aktiv Sport …

Zum nächsten Buch: Der Schauspieler Uwe Preuss (geb. 1961), aufgewachsen in der DDR und in Brasilien, und vielen womöglich bekannt aus „Polizeiruf Rostock“ und „Deutschland 83“, erzählt Geschichten von sich und seiner Familie aus drei Generation mit der des Vaters, des Großvaters und über sich, alles kurz und bündig geschrieben, fast im Staccato ganz wie der Titel: Das Leben im übertragene Sinne nur ein (kleiner) „Katzensprung“? Nein, denn wer das Buch zur Hand nimmt, dem springt förmlich das Titelbild entgegen: Es zeigt (vermutlich) den kleinen Uwe ganz oben auf einem 10-m-Sprungturm, darunter sind die Sprungbretter des 7,5er und des 5er zu sehen, alle beim Betrachten in stattlicher Höhe, zumal am unteren Bildrand das Wasser noch gar nicht zu sehen ist. Wird Uwe den Sprung wagen?

Die Titelbildszene wird tatsächlich aufgeklärt im Kapitel „Senhor Nicki. Der Bademeister in Esperia“, spielt Anfang der 1970er Jahre in Sao Paulo (Brasilien). Erst wird noch einmal auf die Fußball-Weltmeisterschaft in Mexiko zurück geblendet, wo die Mannschaft des Deutschen Fußball-Bundes einst um den dritten Platz spielte. Und dann geht es für den kleinen Uwe hinauf auf den Sprungturm: „Die Häuser hinter der Clubanlage im Blickfeld, langsam auch das Sprungbecken, türkis. Einmal Luft holen, dann springe ich. Genieße den Flug! Die Füße voran, die Augen zu! (…) Und dann tauche ich ein. Höre alles so, als hätte ich Watte in den Ohren. Bum bum bum (…) Vati klopft mir von Mann zu Mann auf die Schulter (…) Wieder auf der Wiese, freue ich mich schon auf den nächsten Sprung“. Wer erinnert sich nicht (in gleicher Weise) an den ersten Sprung vom Turm im Freibad? Und was weiter: Da gibt es noch das Kapitel über den Matchball im Tischtennis (ab S. 37) und das Bekenntnis zum Fußball: „Ich stand gern im Tor“ (S. 132).

Zum dritten Buch: Darin erzählt Susanne Gregor (geb. 1981) die berührende Geschichte von drei Freundinnen im Wendejahr 1989 („Das letzte rote Jahr“); dieses letzte rote Jahr spielt in Zilina (Tschechoslowakei). Rita, Slavka und die Ich-Erzählerin Misa (alias Susanne Gregor) wohnen in einem Haus im Bezirk Vlicince, sogar ihre Eltern sind befreundet. Der Roman kontrastiert die unterschiedlichen Lebensentwürfe der drei Teenies: Rita geht ihren Weg als treue Pionierin der sozialistischen Jugend, politisch korrekt und systemkonform kämpfend. Misa interessiert das wenig, sie versinkt in der Welt ihrer Bücher, um möglichst bald eine ganz andere (Lebens-)Welt kennenzulernen. Und was ist mit Slavka? Sie träumt von einer Karriere als Athletin – ganz genau als Gymnastin bzw.

Turnerin:

„Slavka führte uns einen Überschlag vor, bei dem sie mit Anlauf einen Salto machte, ohne Trampolin oder Matte, bevor sie sich schnaufend auf den Teppichboden fallen ließ“ (S. 57). Doch rund 50 Seiten passiert das unvorhergesehen tragische bei einem Auftritt im Ferienlager: Slavka liegt auf dem Boden, „ganz ohne Aufschrei und ohne großen Knall war sie gestürzt“. Der Knöchel ist gebrochen. Aus der Traum von der Spartakiade …

Was nun? Wieder aufstehen? Andere tschechoslowakische Profisportler haben das doch auch geschafft. Im Psychodrama ist die Rede namentlich von Emil Zatopek, dem mehrfachen Olympiasieger im Langstreckenlauf, von Jan Zelezny, dem Weltrekordler im Speerwurf, und von Ivan Lendl, u.a. Gewinner im Tennis Davis Cup. Sie alle haben Verletzungen überwunden und sind zurückgekommen. Warum nicht auch Slavka? Nur der Zweifel muss überwunden werden: Das Hindernis ist nicht der Körper, nur der Kopf. Da hilft es wenig, über die Karriere nach der Karriere zu spinnen: Slavka als zukünftige Leiterin der Spartakiade?

Salvka als die „die Anzüge der Turnerinnen aussuchte, die Choreographie zusammenstellte und der Musik anpasste, einer Musik, die ihr gefiele“ (S. 120)? Zu spät: Der Herbst kommt, eine neue Welt entsteht …

Susanne Gregor: Das letzte rote Jahr. Frankfurt 2019: Frankfurter Verlagsanstalt. 224 S.; 22,- €

Katja Oskamp: Marzahn mon Amour. Geschichten einer Fußpflegerin. Berlin 2019: Hanser (9. Auflage 2020). 144 S.; 16,-€

Uwe Preuss: Katzensprung. Frankfurt 2019: Fischer. 172. S.; 20,- €

Prof. Dr. Detlef Kuhlmann

author: GRR