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2020

Henner Misersky bei seiner Ehrung zum "Trainer des Jahres" - nachtrüglich - bei der GRR-Jahresmitglieder versammlung 2019 in Tübingen - Foto: Fabian Knisel

Ein Leben für den Ausdauersport und im Kampf gegen Doping: Henner Misersky wird 80 Jahre alt

By GRR 0

Der ehemalige Leichtathlet, Skilangläufer, Triathlet und Skilanglauftrainer Henrich („Henner“) Misersky vollendet am Freitag, dem 25. Dezember, sein 80. Lebensjahr.

Der unermüdliche Kampf gegen Sportbetrug im Leistungssport hat sich in seine Biografie in einer „tragisch-erfolgreichen“ Weise eingemeißelt, die es nahelegt, sie anlässlich seines 80. Geburtstages nochmals gezielt in Erinnerung zu rufen, auch als Würdigung für sein wechselvolles sportliches bzw. sportpolitisches Lebenswerk:

Die den Sport tragenden Sport Werte von Fairplay und weitere über den Sport hinausragenden wie Gradlinigkeit und Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit, Mut und Entschlossenheit führt uns der Jubilar „lebenslänglich“ in nachahmenswerter Weise vor Augen.

In nüchternen Daten und Fakten liest sich die Biografie von Henner Misersky stichwortartig zunächst so: geboren in Jena, heute wohnhaft mit Ehefrau Ilse, einer früheren DDR-Meisterin über 800m, in Stützerbach am Rennsteig in Thüringen.

Nach einer Sonderreifeprüfung studierte der gelernte Zahntechniker an der Universität Jena Sportwissenschaften. 1965 wurde er DDR-Vize-Meister im 3000-m-Hindernislauf, genau 100 Rennen bestritt er in dieser seiner Paradedisziplin im Trikot des SC Motor Jena und am Jahresende 1965 war er mit 8:38,6 Min. schnellster Deutscher in der damaligen Jahresbestenliste. Trotzdem verhinderte ein Blitztelegramm des Ministeriums für Staatsicherheit („Stasi“) der DDR seinen Start für die DDR beim Europapokal-Finale in Stuttgart und später auch Nominierungen für Länderkämpfe.

Ins Visier der Stasi geriet er wegen heute noch bestehender sportkameradschaftlicher Verbindungen zu den bundesdeutschen Ex-Leichtathleten Manfred Letzerich (Wiesbaden) und Helmut Neumann (Darmstadt) sowie zum einstigen Republikflüchtling Dieter Eckardt, der rund 25 Jahre den Bundeswettbewerb „Jugend trainiert“ leitete – nicht zu vergessen sind ferner die engen privaten Kontakte zu Max Danz (1908-2000), dem damaligen Präsidenten des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV), die über die Verwandtschaft seiner Frau entstanden.

Internationale Starts im westlichen Ausland wurden dem Jubilar jedoch gleich nach dem Mauerbau 1961 generell verwehrt. Als Systemkritiker, der den Prager Frühling 1968 in der damaligen CSSR begrüßte und das Wahlsystem in der DDR als „Volkszählung“ karikierte, wurde ihm auch die ursprünglich zugesagte Assistentenstelle und eine angestrebte wissenschaftliche Karriere mit Schwerpunkt in der Trainingslehre verweigert, zu der er mit „summa cum laude“ diplomiert hatte.

Henner Miserski (r.) und Helmut Neumann bei der GRR-Ehrung in Tübingen 2019 – Foto: Horst Milde

Seine Einstellung als Lehrer in der DDR-Volksbildung scheiterte ebenfalls. Durch Vermittlung seines Betreuers der Diplomarbeit bekam er letztlich 1969 eine Anstellung als Sportlehrer an der damaligen TH Ilmenau mit dem Schwerpunkt Ausdauersport. Zur Lösung „leistungssportlicher Aufgaben“ wurde er wegen starker Leistungen seiner Trainingsgruppe als Nachwuchstrainer zum SC Motor Zella-Mehlis abgeordnet, wo auch Tochter Antje (geb. 1967) zu seiner Trainingsgruppe im Skilanglauf gehörte. Aus dieser Trainingsgruppe gingen später fünf Olympiateilnehmerinnen hervor. Aber auch da durfte Henner Misersky seine Sportlerinnen nicht ins westliche Ausland begleiten.

Seine ungewöhnliche leistungssportliche Biografie als Wettkämpfer dauerte ununterbrochen von Silber bei der DDR-Jugendmeisterschaft 1958 über den DDR-Juniorenrekord und Juniorenmeistertitel 1960 bis zu den Senioren-Weltmeisterschaften 2012 im Skilanglauf, seiner großen Leidenschaft bis heute. Er gewann insgesamt 34 Deutsche Seniorenmeistertitel,16 Medaillen bei den WM der Senioren, davon sechs Seniorenweltmeistertitel. Für Misersky sind diese Erfolge ein später Ersatz für die entgangenen sportlichen Chancen zu Zeiten der DDR.

Wie es zu einem weiteren dramatischen Bruch und  Beugung in der Biografie von Henner Misersky als Trainer kam und wie sich dadurch sein Leben und das seiner Familie abrupt ändern sollte, diese Wende-Momente hat er in einem Beitrag für die Berliner Tagesszeitung „Der Tagesspiegel“ rückblickend im Jahre 2009 selbst so geschildert – wir schreiben das Frühjahr 1985, kurz nachdem seine Tochter Antje mit 17 Jahren bereits WM-Bronze mit der DDR-Staffel gewonnen hatte: „Ich stapfte durch Oberhof, noch immer lag Schnee. In der Sportschule des Deutschen Turn- und Sportbundes der DDR, kurz DTSB, war eine Sitzung mit Spitzentrainern angesetzt.

In einem nüchternen Konferenzraum warteten schon Funktionäre des DDR-Skiverbands. Einer von ihnen war Kurt Hinze, der Cheftrainer der Skilangläufer. Auch Helmut Zensler von der Abteilung Methodik war da. Zensler verkündete militärisch knapp: ‚Ab sofort gehören unterstützende Mittel auch beim Nachwuchs zum Verbandsprogramm. Wie im Frauenrudern und im Kanu.‘ Dopingmittel also. Ich horchte auf. Talente im Jugendalter mit Dopingmitteln zu präparieren, das hatte es bis dahin im Skilanglauf nicht gegeben. Und nun sollte meine Tochter Oral-Turinabol schlucken, das Standard-Dopingmittel der DDR. Für mich undenkbar. Am gleichen Abend hatte ich mich von meiner Schwiegermutter, selbst Medizinerin, über die Indikationen, alle Risiken und Nebenwirkungen dieses anabolen Steroides aufklären lassen, was jedem in der DDR auch beim Hausarzt oder Apotheker möglich war an Hand der ‚Roten Liste‘ für zugelassene Medikamente.

Von diesem Tag an begann mein Abstieg als Trainer.“

Und nun sollte meine Tochter Oral-Turinabol schlucken, das Standard-Dopingmittel der DDR. Für mich undenkbar. Am gleichen Abend hatte ich mich von meiner Schwiegermutter, selbst Medizinerin, über die Indikationen, alle Risiken und Nebenwirkungen dieses anabolen Steroides aufklären lassen, was jedem in der DDR auch beim Hausarzt oder Apotheker möglich war an Hand der ‚Roten Liste‘ für zugelassene Medikamente. Von diesem Tag an begann mein Abstieg als Trainer.“

Auf Anordnung der Führung des DDR-Skiverbandes wurde Misersky wegen angeblicher Differenzen mit der Sportführung wenig später entlassen. Seine Tochter Antje, bis dahin schon als 16-jährige DDR-Meisterin über 20 km Skilanglauf, beantragte ihre „Ausdelegierung“ aus dem Leistungssport und durfte ihren Titel bei den DDR-Meisterschaften nicht verteidigen. Bei DDR-Studenten-Meisterschaften konnte sie jedoch starten und holte hier überlegen zwei Titel in Folge – mit Vater Henner als geduldetem Trainer. Antje Misersky holte für das wiedervereinigte Deutschland bei den Olympischen Spielen 1992 in Albertville als Mitglied einer gesamtdeutschen Olympiamannschaft das erste Gold und zweimal Silber im Biathlon nach einem individuellen Trainingskonzept ihres Vaters.

Vier Jahre später in Lillehammer kam nochmals Silber dazu mit der Staffel sowie im letzten Jahr ihrer Biathlon-Karriere mit der deutschen Staffel der erste WM-Titel der deutschen Frauen im Biathlon in Antholz – eine wunderbare familiäre Rehabilitierung, die Henner Misersky sogar damals medienöffentlich im ARD-Olympiastudio im Beisein von Hermann Weinbuch, dem damaligen Sportdirektor des Deutschen Skiverbandes, in einer kompromisslosen Diskussion selbst betonte, wenngleich der glücklichste Moment seines Lebens nach wie vor der Fall der Mauer ist. Denn so wurde er später von der Landesregierung Thüringen rehabilitiert und erhielt am Sportgymnasium Oberhof eine Stelle als verantwortlicher Spezialsportlehrer für Skilanglauf.

So trat er bereits 1991 als Zeuge gegen DDR-Dopingtäter auf

Henner Miserskys Kampf gegen dopingfreien Sport ging auch unabhängig von der Beendigung der Karriere seiner Tochter weiter, und zwar an ganz unterschiedlichen Fronten. So trat er bereits 1991 als Zeuge gegen DDR-Dopingtäter auf. Als Zeitzeuge des DDR-Sports konnte der Biologe Prof. Dr. Werner Franke ihn als Gründungsmitglied des Dopingopferhilfevereins (DOH) im Jahr 2000 gewinnen. Dadurch entstanden weitere Kontakte zu Gleichgesinnten wie Prof Dr. Gerhard Treutlein, Hansjörg Kofink und Claudia Lepping, die im persönlichen Austausch halfen, seine Sicht auf den Leistungssport sowie sporthistorischen Defizite zu kritikwürdigen Zuständen in den alten Bundesländern abzubauen. Die nicht nur nach seiner Einschätzung eine kritikwürdige Entwicklung im DOH unter der später zurückgetretene Vorsitzenden Prof. Ines Geipel führte dazu, dass er 2018 als Beiratsmitglied Ethik zurücktrat und unter Protest seine Mitgliedschaft aufgab.

Für seine Haltung gegen das Staatsdoping in der DDR und die daran Beteiligten wurde er im Jahre 2009 mit der Heidi-Krieger-Medaille ausgezeichnet. Ein Jahr später erhielt er die Ehrennadel des Thüringer Skiverbands. Am 25. Mai 2012 wurde Henner Misersky mit Tochter Antje in die Hall of Fame des deutschen Sports bei der Stiftung Sporthilfe aufgenommen, und zwar in der Kategorie stellvertretend für den Bereich „Besondere Biografie im Kampf gegen Doping“.

In der Laudatio des renommierten Sportjournalisten Robert Hartmann heißt es an einer Stelle, dass Henner Misersky gleich nach der Wende zu jener kleinen Gruppe gehörte, „die in Deutschland für flächendeckende Dopingkontrollen eintrat. Er glaubte an die Gerechtigkeit als eine Leitschnur. Ohne sie würde alles zerbrechen. Und denkt bitte daran, dass eines Tages die Eltern ihre Kinder nicht mehr zum Spitzensport schicken! Ein System, das sich auf der Lüge aufbaut, hat keine Zukunftschancen.“

Auch mit 80 wird Henner Misersky mit Sicherheit nicht müde in seinem Engagement, sich für eine „bessere“ Zukunft des Leistungssports auf den Weg zu machen.

Prof. Dr. Detlef Kuhlmann

GRR- Ehrung „Trainer des Jahres“ für Henner Misersky bei der Jahresmitgliederversammlung in Tübingen 2019

Mit Henner Misersky ehrte German Road Races einen Lauf- und Skilanglauftrainer, der nach seiner Verweigerung des staatlich verordneten Dopings im DDR-Leistungssport „Berufsverbot“ erhielt, in den 90er Jahren seine im Biathlon als Olympiasiegerin und bei Weltmeisterschaften zu zahlreichen Medaillen laufende Tochter Antje zu großen Erfolgen führte.

Der DDR-Vizemeister über 3000 m Hindernisläufer pflegte trotz aller Erschwernisse über fünfzig Jahre hinweg eine intensive Freundschaft zum westdeutschen Disziplinkollegen Helmut Neumann.

Henner Misersky (r) und Helmut Neumann beim Bier in Tübingen 2019 – Foto: Horst Milde

Die Lebensgeschichte von Henner Misersky wurde von den Laufveranstaltern mit großer Hochachtung und viel Beifall bedacht. Begleitet wurde der Thüringer übrigens von seinem Freund Helmut Neumann.

German Road Races gratuliert dem Jubilar zum heutigen Ehrentag auf das Herzlichste.

Horst Milde

 

author: GRR