Ob Olympiasieger Christoph Harting in Tokio dabei ist, bleibt unklar. - Foto: Victah Sailer
Deutsche Leichtathleten: Die Arrivierten bangen um Olympia 2021 – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Der Leichtathletik-Verband wird das stärkste Kontingent zur deutschen Olympiamannschaft beisteuern. Doch viele große Namen sind noch nicht im Kader. Wer von ihnen in Tokio dabei ist, bleibt unklar.
Die Olympiasieger Christoph Harting und Thomas Röhler, die einstigen Weltmeister Christina Schwanitz, David Storl und Raphael Holzdeppe – eigentlich sollten sie alle Favoriten sein bei den Olympischen Spielen in Tokio.
Doch derzeit ist nicht einmal sicher, dass der Diskuswerfer, der Speerwerfer, die Kugelstoßer und der Stabhochspringer überhaupt dabei sein werden, wenn am 30. Juli, Tag zehn der Spiele, im Olympiastadion von Tokio die Leichtathletik-Wettbewerbe beginnen werden.
„Viele trainingsältere Athleten, die mit diesen Olympischen Spielen einen Schlusspunkt an ihre Karriere setzen wollten, hatten Probleme mit der Verschiebung. Sie mussten sich weiter motivieren oder Verletzungen wegstecken“, sagt Chef-Bundestrainerin Annett Stein. Sie gibt sich dennoch optimistisch. Es gebe viele junge, unbekannte Athleten, die fit, motiviert und im aufstrebenden Teil ihrer Karriere seien, sagt sie und nennt beispielhaft die Mittelstreckenläufer Katharina Trost und Robert Farken; sie hat in Chrosów die Norm für die 800 Meter in 1:58,68 Minuten unterboten, er beim Gewinn der deutschen Meisterschaft in Braunschweig die für 1500 Meter in 3:34,64 Minuten. „Es wäre natürlich schöner, die jungen kämen zu erfolgreichen, erfahrenen Sportlerinnen und Sportlern hinzu“, sagt die Trainerin.
Robert Farken läuft über 1500 m Meisterschaftsrekord – Foto: Benjamin Heller / DLV
Mit rund 65 Athletinnen und Athleten will der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) das stärkste Kontingent zur deutschen Olympiamannschaft beisteuern. Doch erst dreizehn deutsche Meister von Braunschweig sowie neun Geher und Marathonläufer sind dem Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) zur Nominierung vorgeschlagen.
„Das wirft mich kein Stück zurück“
Dienstag um Mitternacht ist letzter Termin für die Abgabe der Nominierungsbögen für die Bundestrainer. Vermutlich werden in der Nacht einige Mails im Büro von Annett Stein eintreffen. In Luzern und Berlin finden am selben Abend Sportfeste statt, bei denen deutsche Topathleten praktisch in letzter Minute auf den Zug nach Japan aufspringen wollen. Am Sonntag, sechzig Stunden vor Meldeschluss, laden Verband und TSV Bayer 04 nach Leverkusen ein.
Für Johannes Vetter müsste man das Adjektiv favorisiert eigentlich steigern: Größer können die Erwartungen gar nicht sein, dass er, fünf Jahre nach Röhler, die Goldmedaille im Speerwurf gewinnt. Sechs der zehn besten Würfe des Jahres stehen für den Weltmeister aus Offenburg zu Buche. 96,29 Meter ist seine Bestleistung dieses Jahres, 6,74 Meter vor dem Zweitbesten, dem Polen Marcin Krukowski. Mit 97,76 Metern hat sich Vetter im vergangenen Jahr dem 25 Jahre alten Weltrekord des Tschechen Jan Zelzny (98,48) weniger als einen Meter genähert.
Am Samstag will Vetter in Finnland seine Wettkampfpause beenden. Er sei hungrig und voller Energie, teilt er mit. Zehnkampf-Weltmeister Niklas Kaul dagegen erfuhr im Mekka seiner Sportart, in Götzis, dass die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Er verpasste die Norm und wurde Fünfter. Für ihn mit seinen 23 Jahren gilt nicht, was die Chef-Bundestrainerin sagt, um ihren Optimismus zu begründen: „Schade, dass viele Verdiente sich mit ihrer Norm von 2019 nicht werden qualifizieren können.“
Jüngere mit Resultaten aus diesem Jahr werden sie verdrängen – wie es voraussichtlich im Diskuswurf kommen wird. Drei Herausforderer haben die Norm von 66 Metern übertroffen, allen voran der Olympia-Dritte von Rio 2016 und deutsche Meister Daniel Jasinski; Hartings bester Wurf ging auf 65,40 Meter.
Das Schweigen, mit dem er nach der verpatzten Meisterschaft das Stadion in Braunschweig verließ, klang nicht viel schlechter als der angestrengte Optimismus von Röhler, der seinen Wettkampf abbrach und behauptete: „Das wirft mich kein Stück zurück.“ Er will am Dienstagabend sein erstes Resultat des Jahres liefern.
Von einer neuen Generation im Sprint schwärmt Annett Stein geradezu: „Die sind super; fast alle noch U 23“, sagt sie: „Und Julian Reus wie der Kapitän der Mannschaft.“ Hinter dem Jahresschnellsten und deutschen Meister Marvin Schulte (10,19 Sekunden) sowie Lucas Ansah-Peprah (10,20) ist der 33 Jahre alte Reus mit 10,29 die Nummer drei.
Ansah-Peprah, 21 Jahre alt, wird wie der 200-Meter-Champion Owen Ansah (20) von dem einstigen Weitspringer Sebastian Bayer trainiert. Die mit Alexandra Burghardt, Lisa Mayer, Tatjana Pinto und Rebekka Haase neu zusammengesetzte Sprintstaffel lief in Regensburg in 42,38 Sekunden die vorläufige Weltjahresbestzeit.
Gina Lückenkemper, die erfolgreichste deutsche Sprinterin, will sich am Dienstagabend noch qualifizieren.
Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Freitag, dem 25. Juni 2021