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14
08
2018

100 Meilen Berlin - Logo: organisers

Der Fuchs, die Fledermäuse und Jörg – Gedanken vom 7. Mauerweglauf Berlin – Dr. Erdmute Nieke

By GRR 0

100 Meilen Berlin am 10.-12. August 2018 in Berlin 

Der Mauerweglauf: 100 Meilen gegen das Vergessen

Nach Erkenntnissen der Stiftung Berliner Mauer kamen zwischen 1961 und 1989 mindestens 138 Menschen an der früheren Grenze ums Leben, darunter 100 DDR-Bürger bei Fluchtversuchen. Der Mauerweglauf erinnert an diese Menschen und Schicksale.

Aus diesem Grund trägt auch die Finisher-Medaille jedes Jahr das Konterfei eines Maueropfers. Nachfolgend eine Übersicht der bisher beim Mauerweglauf gewürdigten Menschen.

2018 – Jörg Hartmann

Jörg Hartmann war das jüngste Opfer, das an der Berliner Mauer sein Leben verlor. Jörg wurde nur 10 Jahre alt. Morgen vor genau 52 Jahren, am 14.März 1966 hielt sich Jörg gemeinsam mit seinem 13-Jährigen Freund Lothar Schleusener nach Einbruch der Dunkelheit im Grenzgebiet im Berliner Stadtbezirk Treptow auf. Das wurde den beiden Jungen zum Verhängnis.     

Ein Grenzsoldat sah ihre Schatten und eröffnete das Feuer. Beide Jungen verloren ihr Leben.

Zwei Wochen nach Jörgs Tod erhält seine Großmutter die offizielle Nachricht vom Generalstaatsanwalt Ost-Berlins, dass Jörg ertrunken sei. Seine Leiche sei am 17. März aus einem See in Köpenick geborgen worden.

Viele Jahre wurde der Tod von Jörg Hartmann und seinem Freund vom DDR-Regime verschleiert. Erst nach Öffnung der Mauer wird aufgedeckt, dass Jörg und Lothar Opfer des ostdeutschen Grenzsystems wurden.

Kurz vor 21 Uhr biege ich – noch ganz frisch auf den Beinen – als Schlussläuferin unserer Vierstaffel von der Ruppiner Chaussee in den Waldradweg zwischen Stolpe-Süd und Berlin-Heiligensee ein und werde von einem Fuchs auf dem Weg begrüßt. Noch ganz jung, schaut er neugierig auf die abendliche Abwechslung und lässt mir dann doch ganz freundlich den Vortritt.

Fünf Kilometer später versinkt eine goldene Abendsonne hinter einem Maisfeld, der Weg ist gesäumt von jungen Birken und die Fledermäuse erobern den Himmel und begleiten mich lange, selbst im Lichtpegel meiner Stirnlampe suchen sie noch nach Mücken und flattern vor mir her. Wenig später klarer Sternenhimmel, angenehme Nachtfrische und völlige Stille auf dem Weg nach Lübars.

Nein es ist kein Natur-Nacht-Trail, sondern ich laufe gerade den 7. Berliner Mauerweglauf – 100 Meilen. Nun schon zum vierten Mal, obwohl es in diesem Jahr einen neuen Teilnehmerrekord gibt, ist das Läufer*innenfeld 14 Stunden nach dem Start schon sehr auseinander gezogen. Nur selten werde ich von anderen überholt oder überhole andere.

Die Nachtstille am Nordostrand von Berlin gibt mir mal wieder Zeit um Beine und  Gedanken laufen zu lassen.

Jeder 100-Meilen-Lauf ist einem Maueropfer gewidmet. In diesem Jahr: JÖRG – Jörg Hartmann.

Geboren bist Du 1956. Ich spreche Dich mit Du an, denn Du durftest nur zehn Jahre alt werden. Deine Mutter ist in eine psychiatrische Klinik eingewiesen, das ist schon ein moderner Begriff. In meiner DDR-Kindheit sprachen alle von der „Anstalt“ oder der „Klapse“.

Ziemlich wahrscheinlich wird Dich irgend Jemand damit geärgert und ausgegrenzt haben, solche Dinge blieben nie vertraulich. Deine Klassenlehrerin beschreibt Dich als ein stilles und zurückhaltendes Kind, welches Kind redet schon gern darüber, dass die Eltern fehlen. Denn Dein Vater lebt in Neukölln, 1966 sozusagen auf einem anderen Planeten. Du lebst bei Deiner Oma in Treptow. Bestimmt hast Du Sehnsucht nach Deinem Daddy und überzeugst vielleicht Deinen dreizehnjährigen Freund Lothar, zu versuchen über diese seltsame Mauer zu klettern.

Mit zehn Jahren kannst Du gar nicht nachvollziehen, dass das tödlich enden könnte, oder es ist Dir vielleicht sogar egal? Dein Alltag mit dem wöchentlichen Fahnenappell im blauem Jungpionierhalstuch und dem Heimatkundeunterricht, bei dem Dir die Schönheit und die Überlegenheit des Sozialismus erklärt wird, steht im Kontrast zu Deinem Leben ohne Eltern.

Dein Freund macht mit. Zu Zweit seid ihr stärker, doch leider war dem nicht so! In der Dunkelheit des 14. März 1966 eröffnet ein Grenzsoldat das Feuer auf Dich und Deinen Freund. Ein nur zehn jähriges Leben und ein dreizehn jähriges gehen völlig sinnlos zu Ende! Hätte es Krieg und Teilung und Mauer und Grenzsoldaten nicht gegeben, wärst Du jetzt 62 Jahre alt!

Dein kurzes Leben ist ein Appell für uns! Heute laufen mehr als 1000 Menschen auf einem Weg, der in Deinen Kindertagen eine unüberwindbare Mauer war und tragen Dein Kindheitsfoto auf ihren Startnummern und werden so an Dein Schicksal erinnert und erzählen es weiter.

Nachtgedanken auf dem Mauerweg! Doch der Weg führt weiter und zurück in die Stadt. Ampeln, Verkehr, Partylärm und schlechte Wegqualität – das neue Fahrradmobilitätsgesetz in Berlin hat sich noch nicht in frischen Asphalt auf den eigentlich schönen und meist autofreien Radwegstrecken verwandelt – reißen mich aus meinen Gedanken.

Im Jahnsportpark erwarten mich meine Mitläufer*innen für eine gemeinsame Stadionrunde ins Ziel. Jedes Jahr wieder eine ganz besondere Atmosphäre. Die bunten Leuchtkugeln an der Bahn, die Menschen im nächtlichen Stadion.

Überhaupt die Organisatoren: Die LG Mauerweg e.V. hat wieder ein wahres Wunder vollbracht. Drei Tage perfekt organisiert: Pastaparty – Wegmarkierungen – Mauerstein für jede Läufer*in – 27 Versorgungspunkte mit 70 Tonnen Essen – Besenstaffel – Siegerehrung – Medaille und Urkunde für jede Teilnehmer*in – echte Finisher-T-Shirts – Schlafliegen im Stadion – Frühstück vor dem Lauf – Suppe nach dem Lauf … um nur Einiges zu nennen!

Die Siegerehrung hält noch einen ganz besonderen Höhepunkt bereit. Ursula Mörs, die inzwischen 82-jährige Klassenlehrerin von Jörg Hartmann, überreicht allen Läufer*innen die Medaillen, nachdem Alex von Uleniecki sie interviewt hat.

Die Geschichte, die sie aus der Zeit nach dem Tod von Jörg zu erzählen hat, lässt sich zusammen fassen in Lügen der Diktatur und späte Gerechtigkeiten. Eine beeindrucken Dame! Sie hat das Denkmal mit initiiert, an dem die Läufer*innen ihr mitgebrachtes Spielzeug niederlegten.

Bei der Siegerehrung der Einzelläufer*innen spricht Rainer Eppelmann – der Schirmherr der Mauerlaufes – mahnende Worte zur Verteidigung von Demokratie und Freiheit hier und heute!

Auch heute sind Menschen vor unwürdigen Lebensbedingungen und Diktatoren auf der Flucht. Töten wir sie nicht auch wieder mit Frontex, Ankerzentren, Abschiebungen und verhinderter Seenotrettung?

100 Meilen von Berlin – der Mauerweglauf ist viel, viel mehr als nur eine Sportveranstaltung. 100 Meilen Erinnerung an die deutsch-deutsche Geschichte – 160 Kilometer Verantwortung für die Zukunft.

Mögen wir alle aus der Vergangenheit lernen und gemeinsam dafür Sorge tragen, dass unsere Gesellschaft demokratisch und tolerant, gewaltfrei und offen bleibt, für ALLE!

Dr. Erdmute Nieke

author: GRR