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18
01
2021

Michael Reinsch - Foto. Horst Milde

DDR-Doping-Opfer: „Dieses Urteil ist wegweisend“ – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

By GRR 0

„Für viele Betroffene unglaublich wichtig“: Anne Drescher spricht im Interview über den von einer früheren Turnerin durchgesetzten Rehabilitierungsanspruch wegen der Folgeschäden des DDR-Dopings.

Anne Drescher ist Landesbeauftragte für Mecklenburg-Vorpommern für die Aufarbeitung der SED-Diktatur.

Das Verwaltungsgericht Greifswald hat im Dezember einer ehemaligen Turnerin auf Basis des Zweiten SED-Unrechtsbereinigungsgesetzes verwaltungsrechtliche Rehabilitierung zugesprochen für Schädigung durch Doping. Was bedeutet das?

Dieses Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Revision ist zugelassen. Aber es ist, sollte es Bestand haben, wegweisend. Sportgeschädigte Athleten aus der DDR konnten Antrag stellen nach dem Doping-Opfer-Hilfegesetz …

… was 1650 erfolgreich getan haben.

Diese Möglichkeit gibt es heute nicht mehr, das Gesetz ist ausgelaufen. Einige Geschädigte versuchen über das Opfer-Entschädigungsgesetz ihre gesundheitlichen Schäden anerkennen zu lassen und finanzielle Leistungen zu erhalten, was sehr schwierig ist. Die jetzige Entscheidung zur verwaltungsrechtlichen Rehabilitierung ist ein anderer Weg – und dies ist kein Grundsatzurteil, das hat das Gericht deutlich gemacht. Bei diesem Verfahren ist der erste Schritt die verwaltungsrechtliche Rehabilitierung, der zweite Schritt der nun mit der Rehabilitierung mögliche Antrag auf Anerkennung gesundheitlicher Folgeschäden. Das Versorgungsamt wird jeden Fall, jeden einzelnen Antrag auf Anerkennung von gesundheitlichen Folgeschäden einzeln prüfen und bescheiden. Es entscheidet, ob ein kausaler Zusammenhang zwischen Doping damals und Schädigung heute besteht und in welcher Höhe die Schädigung vorliegt. Auf Sportlerinnen und Sportler, die sich auf diesen langen Weg machen wollen, kommt etwas zu, für das sie sich Hilfe bei den Landesbeauftragten holen sollten.

Welche Rolle haben Sie als Landesbeauftragte für Mecklenburg-Vorpommern für die Aufarbeitung der SED-Diktatur in diesem Fall gespielt?

Für mich ist klar, dass systematisches Doping im DDR-Sport staatliches Handeln war und in die Systematik der Unrechtsbereinigungsgesetze gehört. Die Gesetze nehmen die gesamte Breite der politischen Verfolgung in den Blick. Das Urteil bestätigt meine Überzeugung. Wir beraten die Athletin seit Jahren und haben den Antrag auf verwaltungsrechtliche Rehabilitierung 2018 gemeinsam gestellt. Nachdem der Antrag abgelehnt wurde, haben wir sie im Klageverfahren begleitet. Dieses Verfahren hätte ich nicht allen Betroffenen zumuten wollen. Einige sind sehr entmutigt davon, wie die Gesellschaft auf ihre Lebenssituation blickt. Zu deren psychischen Schädigungen gehören Angststörungen und Panikattacken, Depressionen und Psychosen.

Wie geht es weiter für die Betroffene?

Wer die Rehabilitierung erhält, kann Folgeansprüche geltend machen, bis hin zu einer Rente. Das Gericht ist zu der Überzeugung gekommen, dass die Doping-Maßnahmen, die die Sportlerin in den siebziger Jahren in sehr jugendlichem Alter erlitten hat, zu einer multiplen gesundheitlichen Schädigung geführt haben. Das betrifft sowohl Muskeln und Gelenke als auch ihre Psyche. Sie leidet an Schmerzerkrankungen und psychosomatischen Störungen.

Ist dies ein Durchbruch?

Mit dieser Entscheidung wird der wichtige Aspekt gewürdigt, dass eine rechtsstaatswidrige Handlung vorlag. Für viele Betroffene ist dies unglaublich wichtig; nun müssen sie nicht immer 15.01.2021 wieder neu argumentieren, nicht immer wieder alles erzählen. Das Gericht hat diese Tatsache bestätigt.

Ist damit endlich das Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages vom Tisch, an dem sich die Gerichte seit Jahren und Jahrzehnten orientiert haben?

Das Gutachten ist von 2007, und darin stand, dass die Sportlerinnen und Sportler besonders gefördert wurden und nicht nicht politisch verfolgt wurden oder Willkürakten ausgesetzt waren. Es sah durchaus, dass Doping Staatshandeln war, beschrieb die Athleten aber als begünstigt. Das kann mit heutigem Kenntnisstand keine Gültigkeit mehr haben. Inzwischen sind weiter gehende Erkenntnisse veröffentlicht. Dies hat das Gericht erkannt und benannt.

Brauchen Doping-Opfer finanzielle Unterstützung?

Die 10 500 Euro aus dem Doping-Opfer-Hilfegesetz des Bundes waren eine große Hilfe. Aber sie decken nicht die Folgen ab. Viele ehemalige Sportlerinnen und Sportler sind berufsunfähig. Bei einigen sind die körperlichen Beeinträchtigungen so extrem, dass ihre Wohnungen behindertengerecht umbauen lassen müssen.

Erwarten Sie, dass nun alle 1650 Betroffenen, die der Bund als Doping-Opfer anerkannt hat, Antrag auf Rehabilitierung stellen?

Die Möglichkeit, nun verwaltungsrechtliche Rehabilitierung zu beantragen, gilt vor allem für diejenigen, die sich bereits nach dem DOHG gemeldet haben. Sie haben Schädigungen nachgewiesen, die sie in ihrer Lebensqualität heute einschränken. Die wenigsten von ihnen wussten, was sie damals verabreicht bekamen oder welche Folgen das haben würde.

Sehen Sie die Gefahr, dass Trittbrettfahrer sich staatliche Unterstützung erschwindeln; diejenigen, die wussten, dass sie gedopt waren, und noch dazu, dass es verboten war?

Nein, in jedem Fall findet ja eine Einzelfallprüfung statt. Doping ist nicht mit der Volljährigkeit der Athleten vom Himmel gefallen. Durch den langfristigen Aufbau der einzelnen Sportlerinnen und Sportler entstanden Abhängigkeiten. Was man vor der Volljährigkeit unwissentlich und ohne Aufklärung über mögliche gesundheitliche Risiken und Nebenwirkungen bekam, hat man ja nicht abgelehnt, wenn man achtzehn wurde. Sportlerinnen und Sportler stehen von klein auf in Abhängigkeitsstrukturen zu Trainern und Betreuern. Selbst wenn sie etwas ahnten oder wussten, konnten sie nicht leicht mit diesem Sportsystem brechen. Wer es getan hat, musste mit dem Verlust seiner Sportmöglichkeiten und mit Konsequenzen in Bildung und Beruf rechnen. Es gibt im Bereich der Sportlerinnen und Sportler nicht Schwarz und Weiß, nicht allein Opfer und Täter.

Wie sehen Sie die Interessenvertretung von Doping-Opfern aus der DDR heute, da ehemalige Unterstützer der Doping-Opfer-Hilfe wie Werner Franke und Henner Misersky sich generell gegen die Anerkennung und Entschädigung von Doping-Opfern wenden und damit auch gegen den Verein?

Ich finde es sehr bedauerlich, dass derart Stimmung gemacht wird gegen den Doping-OpferHilfe-Verein. Er leistet wichtige Arbeit. Wir sehen doch, wie es Doping-geschädigten Athleten heute geht. Sie brauchen Ansprechpartner und eine Interessenvertretung. Deshalb kann man die Arbeit des Vereins gar nicht hoch genug einschätzen.

Ein Streitpunkt sind Doping-Opfer der zweiten Generation, geschädigte Kinder von gedopten Athletinnen. Gibt es sie, oder gibt es sie nicht?

Wir sehen die Situation in den Familien. Diese ist auch bestimmt von einer Häufung von Fortsetzungen gerade bei Schädigungen im psychischen Bereich. Darüber wissen wir alle noch viel zu wenig. Die Forschung muss darauf ein Augenmerk richten. In der Gesellschaft mag das eine Marginalie sein. Aber in jeder einzelnen Familie, in der es auftritt, wird dies thematisiert. Da steht immer der Verdacht im Raum, dass dies mit der Doping-Schädigung der Eltern zu tun haben könnte. 

Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Dienstag, dem 12. Januar 2021

Michael Reinsch

Korrespondent für Sport in Berlin.

 

author: GRR