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2021

Gina Lückenkemper bei der EM Berlin 2018 erringt die Silbermedaille über 100m - Foto: Horst Milde

„Das Gefühl des Fliegens will ich wieder erleben“- Gina Lückenkemper will im Sprint wieder dahin, wo sie schon einmal war. Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

By GRR 0

Gina Lückenkemper will im Sprint wieder dahin, wo sie schon einmal war. Doch vor der Leichtigkeit des perfekten Laufs steht die harte Arbeit – in der Trainingsgruppe von Lance Brauman in den Vereinigten Staaten, sobald es Corona zulässt.  

Wie geht’s Erwin?

Dem geht’s gut. Allerdings ist er in letzter Zeit ein wenig vernachlässigt worden.

Erwin ist der Startblock, den Sie stets im Kofferraum hatten. Liegt er jetzt vergessen in einem Keller?

Er liegt in Bamberg in der Wohnung.

Das ist einer von Ihren vielen Standorten, die es notwendig machten, dass Sie mit Erwin reisten; dort lebt Ihr Freund. Sie hatten zudem eine Wohnung in Soest, wo Sie herkommen und wo Ihr Pferd steht…

Die habe ich nicht mehr. Ich bin offiziell Oberfränkin, wohnhaft und gemeldet in Bamberg. Aber natürlich lebt meine Familie noch in Soest.

Sie sind Mitglied des SCC Berlin. Sie gehören einer Trainingsgruppe in Clermont in Florida an. Derzeit campieren Sie auf einer Matratze im Arbeitszimmer Ihrer Freundin Rebekka Haase in Chemnitz: Erzgebirge statt Karibik. Wie ist der Stand beim Fern- und Heimweh?

Mitte Januar habe ich endlich einen Termin bei der US-Botschaft in Berlin. Damit ist ein bisschen absehbar, dass ich ein Visum bekommen könnte.

Sie führen ein Wanderleben. Als Sie während des Lockdowns am Kanal im Stadtpark von Bamberg trainierten, hat ein Ehepaar Ihnen erlaubt, Ihren Metallschlitten durch deren Garten zu ziehen . . .

Es wird nie langweilig. Gerade dieses Jahr hat jedem Menschen sehr viel Kreativität abverlangt. Corona hat auch vor dem Sport nicht haltgemacht; gerade im ersten Lockdown waren wir stark betroffen. Jetzt im zweiten ist Hobby- und Amateursportlern das Training verboten, aber wir Profisportler können am Stützpunkt trainieren – unter strengen Auflagen. Die nehmen wir gern in Kauf, weil uns das erlaubt, unseren Job zu machen.

Waren Sie auf der Suche nach einer Heimat, und haben Sie sie in der Trainingsgruppe von Lance Brauman in Amerika und jetzt in Chemnitz gefunden?

Nein, ich brauche einen Trainer, der mir direkt im Training Feedback geben kann. Darauf hatte ich lange genug verzichtet. Das war okay, aber okay ist nicht das, was ich möchte. Ich will meinen Job richtig gut machen. Ich kann sehr gut mit Video-Feedback arbeiten, aber wenn man allein trainiert, können sich Fehler einschleichen. Jetzt will ich direkte Hinweise zu technischen Aspekten. In den letzten Monaten war das mit Lance durch die unterschiedlichen Zeitzonen nicht möglich. Ich habe vormittags trainiert, und wenn ich fertig war, stand Lance so allmählich auf in den USA.

Konstanze Klosterhalfen ist vor zwei Jahren zum Nike Oregon Project gegangen. WeitsprungWeltmeisterin Malaika Mihambo hat sich ein Jahr später entschieden, zu Carl Lewis nach Houston/Texas zu gehen. Was hat Amerika zu bieten, was Deutschland nicht hat?

Die Trainingswissenschaften sind dort auf einem ganz anderen Stand, es gibt eine ganz andere Herangehensweise. Ich will nicht sagen, dass die Trainingswissenschaft in Deutschland auf einem schlechten Stand ist. Ich bin mit meinem Trainer Uli Kunst auf Weltniveau vorgestoßen, was mir erst die Möglichkeit eröffnet hat, mich dieser Trainingsgruppe anzuschließen. Aber es ist etwas anderes, ob ich im Training die Wahl habe, allein auf der Bahn zu stehen oder mit den Jungs mitzulaufen, oder ob ich zu einer international starken Trainingsgruppe gehöre. So eine Truppe wie die in Florida findet man in Deutschland nicht.

Brauman hat Veronica Campbell Brown und Tyson Gay trainiert. Zu seiner aktuellen Trainingsgruppe gehören 400-Meter-Olympiasiegerin Shaunae Miller-Uibo und 200-MeterWeltmeister Noah Lyles …

Das sind besondere Charaktere. Es ist faszinierend, mit ihnen zu trainieren.

Welches ist der wissenschaftliche Aspekt beim Training?

Ich hatte vorher noch keinen Trainer gesehen, der sein Training so strukturiert wie Lance. Uli und ich waren auch nie die Trainings-Weltmeister. Wir haben sechs Einheiten die Woche gemacht und keine großen Umfänge trainiert. Uli hat immer Rücksicht auf meinen Körper genommen. Das war sehr erfolgreich. Nun trainiere ich, hart gesprochen, an vier Tagen in der Woche.

Klingt nach sehr wenig.

In diesen vier Tagen trainiere ich mehr als früher in sechs. Mein Körper kommt mit der Belastung gut klar, weil er entsprechende Regenerationszeiten hat. An drei Tagen der Woche kann ich mich erholen.

Ist das der Fortschritt: drei Tage Pause pro Woche?

So ist es nicht, dass ich dann faul in der Ecke liege. Bei aktiver Regeneration bewegt man sich durch, dazu werden Stabilitätsübungen gemacht. An den anderen Tagen ist richtiges Training.

Sie trainieren nach Plänen von Brauman. Warum in Chemnitz?

In dem Umfeld dort fühle ich mich sehr wohl. Von Sprint-Bundestrainer Jörg Möckel lerne ich, wie ich korrekt springe. Das habe ich früher nicht getan. Er ist ehemaliger Dreispringer. Und ich bin gar nicht weit weg von Bamberg.

Malaika Mihambo hat mit dem Sprinten angefangen. Fangen jetzt Sie mit dem Weitsprung an?

Ich springe, um Schnellkraft zu entwickeln. Das Training von Lance legt einen starken Fokus auf Sprünge, auf Sprunglauf. Da muss ich noch viel lernen. Wenn ich die Sprünge nicht richtig mache, kriege ich richtig Probleme. Aber Anlauf nehmen und in die Sandgrube springen, das überlasse ich den Experten.

Bei der Weltmeisterschaft von London 2017 sind Sie zum ersten Mal unter elf Sekunden gelaufen, 10,95. War das der Durchbruch der Schallmauer?

Ich habe das Rennen von London noch gut im Kopf. Da habe ich zum ersten Mal die Schallmauer durchbrochen. Neulich habe ich das in Chemnitz noch einmal reflektiert in der Gruppe. Wir setzen uns mittwochs zusammen, um über Technik zu sprechen und alles, was dazugehört. Das habe ich aus Florida mitgebracht; Jörg Möckel hat es übernommen.

Was konnten Sie erzählen?

Wir haben über Laufgefühl gesprochen und darüber, ob man sich beim Laufen Gedanken macht, ob man überhaupt etwas mitkriegt von einer 10,95.

Und?

Ich bin die Zeit im Vorlauf gelaufen. Im Halbfinale war damals Endstation. Ich weiß noch, wie ich beim Warm-up mit Uli rumgeflachst habe. Wir hatten meine Startposition umgestellt; ich bin nicht mehr mit dem linken Bein vorne gestartet, sondern mit dem rechten. Aber beim einzigen Start, den ich beim Warm-up machen konnte, habe ich meinen Startblock auf links vorne eingestellt. Das fiel mir erst auf, als ich drinsaß. Die Schlange der anderen Läuferinnen war so lang, dass ich gedacht habe: Na ja, startest du halt so. Ich war mir sicher, dass im Stadion die Zeit fürs Einstellen und mindestens einen Probestart reichen würde.

Der Start ist gutgegangen …

Ich weiß von dem Rennen nicht allzu viel. Das Einzige, an das ich mich genau erinnere, ist, dass ich Asha Philip neben mir hatte. Sie war Hallen-Europameisterin über 60 Meter. Sie hatte ich relativ zügig. Da wusste ich: Jetzt geht’s richtig ab. Danach war es wie Fliegen. Ich war so im Flow, das Rennen fühlte sich nach großer Leichtigkeit an. Ich musste keinen großen Aufwand betreiben, um richtig schnell zu rennen. Es lief wie von selbst. Das ist das schönste Gefühl, das man im Sprint haben kann.

War Berlin 2018 eine Wiederholung dessen, als Sie im Halbfinale und Finale der Europameisterschaft 10,98 gelaufen sind und Silber gewannen?

Von dem Finale weiß ich nicht wirklich noch etwas. Das ist auf der einen Seite schade, aber auf der anderen macht es das Rennen so besonders. Im Halbfinale war das Gefühl des Fliegens wie in London. Es lief mit so einer Leichtigkeit. Ich bin mit so wenig Aufwand gelaufen, das macht süchtig. Dieses Gefühl jage ich, das will ich wieder erleben. Wenn ich dieses Gefühl habe, wird es richtig schnell.

War 2019, Ihre letzte Saison bisher, eine Enttäuschung?

Nein. So ein Jahr gehört zur normalen Entwicklung einer Athletin dazu. Das zeigt, dass ich ein Mensch bin und keine Maschine – wenn ich auch beim Krafttraining eine Maschine sein möchte. 2019 war sehr viel los, auch privat. Das hat mich sehr beschäftigt, da fehlte mir manchmal der Kopf, das zu zeigen, was eigentlich in mir steckt. Anfang der Saison ging die Entwicklung in die richtige Richtung, sonst wäre ich keine 11,14 gerannt. Bei der WM in Doha war ich eigentlich fit, das hat man in der Staffel gesehen.

Sie waren im Finale, Sie waren Schlussläuferin, und Sie wurden in 42,48 Sekunden Fünfte.

Im Einzel habe ich es im Kopf nicht zusammenbekommen und auch nicht auf die Bahn gebracht. Das war ärgerlich, aber ich wusste, woran es lag, und ich kann daran arbeiten. Im Training habe ich das Gefühl vom Fliegen erleben dürfen, gerade im Aufbau für dieses Jahr. Hat mir aber nichts genützt, weil dann irgendwann eine leichte Muskelverletzung dazwischenkam, die mich über ein paar Wochen ausgebremst hat. Damit war es gelaufen. 2020 war ein schwieriges Jahr, aber das war es für viele.

Bei der deutschen Meisterschaft, bei der Sie fehlten, hat Lisa-Marie Kwayie ihren ersten Titel über 100 Meter gewonnen. Sie wird als Newcomer betrachtet, während Sie an vergangenen Leistungen gemessen werden. Ist das unfair?

Ich werde anders betrachtet. Das liegt an meiner frühen Entwicklung. Lisa ist dreieinhalb Wochen älter als ich, aber man kann unsere Entwicklung nicht vergleichen. Lisa musste erst mal die Probleme in den Griff bekommen, die sie hemmten. Sie kann jetzt zeigen, was in ihr steckt und was sie sich hart erarbeitet hat. Mir war das schon früher vergönnt.

Ende 2018 wechselte Ihr damaliger Verein, Bayer Leverkusen, den Ausrüster und ging von Adidas zu Nike. Warum sahen Sie sich gezwungen, einen neuen Klub zu suchen, statt ebenfalls von den drei Streifen zum Swoosh zu wechseln?

Meine Füße sind mein Kapital. Sie kommen schon bei den drei Streifen nicht mit jedem Schuh zurecht. Mir war das Risiko zu groß, einen anderen Schuh zu nehmen und Schmerzen zu bekommen. Ich will nicht sagen, dass nur Adidas gute Schuhe baut; das können andere bestimmt auch. Aber ich laufe seit sieben Jahren nur noch mit den drei Streifen. Damit kommen meine Füße zurecht. Das Schöne an der Sache: Ich bin seit zwei Jahren in Berlin, und dabei bleibt es.

Adidas hat Ihnen die Tür zu Lance Brauman geöffnet. Hätten Sie mit einem anderen Ausrüster Zugang gehabt?

Hätte ich nicht. Aber es ist nicht allein Adidas geschuldet, dass ich in dieser Gruppe gelandet bin. Adidas bezahlt mir nicht den Trainer.

Ist der Ausrüster ein bestimmender Faktor im Leben eines Athleten? Bestimmt er, mit wem man trainieren kann und mit wem nicht?

Wenn man ins Ausland geht, ist das manchmal der Fall. Aber nicht immer und überall. Es gibt Gruppen, in denen trainieren Athleten mit unterschiedlichen Ausrüstern.

Kann diese Verbindung zu einem Ausrüster auch ein limitierender Faktor sein? Mussten Sie, weil Sie nach Amerika wollten, in Kauf nehmen, zu Lance Brauman zu gehen, obwohl er mit zehn Monaten Gefängnis vorbestraft ist?

Ich bin dort hingegangen, weil ich dort hingehen wollte, nicht weil mir das irgendjemand vorgeschrieben hätte. Niemand hat gesagt: Gina, du musst jetzt dort trainieren. Mir wurde die Möglichkeit eröffnet, mich einer Gruppe mit Weltmeistern und Olympiasiegern anzuschließen, als ich noch einen sehr, sehr guten Trainer hatte. Uli Kunst hat mir geraten, die Chance zu nutzen. Der Wechsel ist wie ein Ritterschlag.

Was ist Brauman für ein Typ?

Er hat eine gewisse Härte, aber ist eigentlich ein lustiger Typ. Er ist sehr darum bemüht, dass es seinen Athleten an nichts mangelt. Er hat mich mit einer deutschen Familie in Florida bekannt gemacht, mit der ich seitdem in regem Kontakt bin und bei der ich wohnen kann, wenn ich endlich wieder dort trainiere. Er wollte verhindern, dass ich allein in einer Ferienwohnung sitze.

Was Training und Leistung angeht, wirkt er humorlos.

Er kommuniziert deutlich, was er erwartet. Dafür ist er da, und dafür sind wir Athleten da. Es geht um Leistung. Wem das nicht passt, dem steht es frei zu gehen.

Haben Sie über seine Gefängnisstrafe gesprochen?

Er hat Sportlern illegal Stipendien verschafft.

Spricht das für ihn oder gegen ihn?

Er hat’s gut gemeint, aber es war nicht gut. Darüber hat er an einem Mittwoch gesprochen. Er hat seine Strafe bekommen.

Beim Istaf und beim Berlin-Marathon waren Sie Social-Media-Reporter. Auf Ihrem InstagramAccount wirken Sie wie ein Model für Sport- und Freizeitmode. Sie haben einen Podcast. Sie könnten Influencer sein. Eigentlich sind Sie die Marke. Welche Rolle spielen Sie für Adidas?

Vielleicht kann man sagen, dass sich zwei Marken gefunden haben. Seit 2013 hat mir Adidas in meiner Entwicklung als Athletin und als Mensch geholfen. Durch die Zusammenarbeit konnte ich viel erleben, mich in vielem ausprobieren und viel lernen, auch über mich. In der Verbindung steckt auch ein Gefühl von Family.

Ist der Ausrüster für Sie auch Türöffner für berufliche Erfahrungen, wie es für andere die Sporthilfe ist?

Für mich ist es eine berufliche Erfahrung, wenn Adidas mich als Rednerin zu einer Veranstaltung einlädt. Dadurch habe ich die Möglichkeit entwickelt, Vorträge zu halten. Das geht weit über das hinaus, was man sich normalerweise als Sponsoring vorstellt. Ich mache das, wenn es sich ergibt, nicht in einer Tour.

Sie sind in Bochum als Studentin der Wirtschaftspsychologie eingeschrieben. Aber eigentlich sind Sie gegen die duale Karriere …

Ich lehne das nicht grundsätzlich ab. Aber ich habe nicht unbedingt den Kopf, sowohl den Sport als auch das Studium gleichzeitig auf einem Niveau zu betreiben, wie ich das will. Ich bin im Studium genauso anspruchsvoll wie im Sport. Vorträge zu halten ist für mich Teil meines Daseins als Sportlerin.

Sie haben Ihr Studium ausgesetzt, um sich auf die Olympischen Spiele 2020 vorzubereiten. Nun werden sie, wenn überhaupt, 2021 stattfinden. Wie steht’s ums Studium?

Es ruht momentan. Sonst wäre es mir nicht möglich, mich so vorzubereiten, wie ich das möchte.

So viel, wie Sie in die Vorbereitung investieren: Können Sie frei entscheiden, ob Sie, wenn die Spiele stattfinden, das gesundheitliche Risiko einer Reise nach Tokio auf sich nehmen wollen?

Manche Athleten müssen mit Kürzungen rechnen, wenn sie nicht fliegen, weil die Olympia-Teilnahme in ihren Verträgen steht. Bei mir ist das nicht der Fall. Aber Olympia ist mein großes Ziel. Ich gehe davon aus, dass uns Sommerspiele vernünftig ermöglicht werden. Die Veranstalter werden alles tun, dass Olympia sicher stattfinden kann. Aber es ist zu früh, darüber zu spekulieren.

Das Gespräch führte Michael Reinsch – Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Dienstag, dem 5.1.2021

Michael Reinsch

Korrespondent für Sport in Berlin.

 

author: GRR