Corona-Krise im Läuferland Kenia: Training in Gruppen ist derzeit nicht möglich. Kenya - Photo: Giancarlo Colombo@Photo Run
Corona in Kenia: Läufer in Not – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Ohne Rennen kein Essen: Die leidenden Athleten aus Kenia unterliegen in der Corona-Krise einem Kontaktverbot. Sie sind auf Hilfe angewiesen. Die Läufer-Hochburg Iten verliert ihre Magie.
Sporthilfe – die besteht in Kenia aus zwei Pappkartons, die Mais und Reis enthalten, Mehl, Nudeln und Öl.
Rund tausend bedürftige Sportlerinnen und Sportler will Sportministerin Amina Mohamed mit solcher Art von Erster Hilfe versorgen, da sie seit März nicht nur einem Kontaktverbot unterliegen, das praktisch gemeinsames Training verbietet, sondern auch einem Reiseverbot. In Kenia betrifft dies ganz überwiegend Läuferinnen und Läufer – mindestens dreimal so viele, wie die Regierung unterstützen kann und will. Bevor alle Laufveranstaltungen auf der Welt abgesagt wurden, hatte Kenia seinen Läuferinnen und Läufern schon verboten, dorthin zu reisen.
Eliud Kipchoge, Olympiasieger und schnellster Mann der Welt auf der Marathonstrecke, ist mit seinem Erfolg zu Ruhm und Reichtum gekommen. Er hält sich nicht mit Klagen darüber auf, dass er mit der Absage des London-Marathons im April einige hunderttausend Pfund verloren haben dürfte, dass ihm mit der Verlegung der Olympischen Spiele um ein Jahr die greifbar nahe zweite Goldmedaille zunächst entglitten ist. Mit seiner Stiftung unterstützt er, wie prominente Kricket-Profis und der Sportwetten-Anbieter Betika auch, die Initiative der Regierung.
In seinem riesigen Geländewagen kreuzt er durch das Nandi County, wo er in Kapsabet lebt und trainiert, fährt nach Eldoret, Iten und Kaptagat, wo große Laufgemeinschaften leben, und hebt dort, begleitet von Fotografen und Fernsehteams, die Lebensmittelpakete für die Bedürftigen von der Ladefläche. Noch mehr sollten für Unterstützung sorgen, fordert er, denn es gebe wesentlich mehr als nur tausend bedürftige Sportlerinnen und Sportler; allein die notleidenden Läuferinnen und Läufer zählten rund dreitausend.
„Bis zu achtzig Prozent von ihnen leben von Rennen in Europa, Asien und anderen Teilen der Welt“, sagt er. „Sie brauchen Rennen, um Essen auf den Tisch zu bekommen, und das ist schwierig geworden, da die gesamte Saison abgesagt wurde.“
Legendärer Missionar: Colm O’Connell (r.) hat das Laufen nach Iten gebracht. – Foto:Hansjörg Wirz
Kipchoge spricht von denjenigen, die Visa bekommen, die eingeladen werden zu großen Rennen oder die von einem Lauf rund um den Kirchturm zum nächsten tingeln. Keine tausend von ihnen dürften über Ausrüsterverträge verfügen, und ob es darin um Geld geht oder um Schuhe und Shorts, sie alle enthalten Klauseln, wonach die Leistungen reduziert oder gar storniert werden, sobald der Athlet sechs Monate lang kein namhaftes Rennen bestreitet. Niemand weiß, wie dies in der jetzigen Situation interpretiert wird.
Benson Yator nimmt in abgestoßener Arbeitskleidung sein Paket im Empfang. Vor zehn Jahren wurde er Dritter des Napur-Marathons in Indien und konnte danach wegen einer Verletzung lange nicht trainieren. Als Kipchoge auftauchte, ist er aus einem Graben gestiegen, den er mit der Schippe für eine Wasserleitung buddelt. Er versteht sich als Läufer. Doch er ist einer der vielen Gescheiterten.
„Iten ist ein Traumland, wie Hollywood“, sagt Arne Gabius, der beste deutsche Marathonläufer. „Viele versuchen ihr Glück und wollen so erfolgreich werden wie Rudisha und Kipchoge.“
Er ist erst im März aus dem Training in der Hauptstadt der Laufwelt heimgekehrt. Neben den Elendsquartieren der läuferischen Glücksritter sei in Iten, in 2400 Meter Höhe, eine Infrastruktur für Hochleistungssportler wie für Lauftouristen entstanden, erzählt Gabius; mit Hotels und Camps, Trainern, Physiotherapeuten und Ärzten, Fahrdienst, Restaurants, Landwirten bis hin zu einer Mozzarella-Käserei. „Das bricht gerade alles zusammen“, sagt Gabius.
Selbst Privatschulen, auf die kenianische Topläufer ihre Kinder schicken, litten nun unter Zahlungsausfällen. Im März rief der Deutsche Leichtathletik-Verband seine Langläufer aus Iten zurück; der Brite Mo Farah zog weiter nach Äthiopien. „Hier ist nichts mehr los, genau wie in Europa“, sagt Jean-Paul Fourier, der Chef des ersten Hotels am Platze, des „Kerio View“.
„Wer nichts zurückgelegt hat, kann nicht überleben.“ Nach der Abreise der Deutschen schloss er sein Haus und nutzt die Zeit zur Renovierung. Einerseits hofft er, dass er im November, wenn seine Hauptsaison beginnt, wieder öffnen darf. Andererseits weiß er, dass das Coronavirus, vor dem all die Zwangsmaßnahmen die Bevölkerung schützen sollen, erst noch über das Land kommen wird.
„Es sind nicht nur Kenianer von der Krise betroffen“, sagt Sondre Nordstad Moen. „Wir sind alle in derselben Situation: Es gibt keine Rennen.“ Moen ist Norweger, der erste Europäer, der einen Marathon in weniger als 2:06 Stunden gelaufen ist. Drei Monate lang hat er sich in Iten auf den London-Marathon vorbereitet. Umsonst. Nun hängt er in Eldoret fest. Seit elf Jahren kommt er zum Training nach Kenia, seit elf Jahren sieht er das Elend. Moen erlebt Armut, im Gegensatz zu vielen Trainern, nicht als Antrieb für sportlichen Erfolg. Ihn schmerzt, wenn sich das läuferische Lumpenproletariat Trainingsgruppen der Profis anschließt. Die hungrigen Läufer ruinierten ihre Gesundheit, sagt er; wenn sie zurückgehen auf den Hof der Familie, gehe es ihnen letztlich besser: „Niemand kann vier- bis fünftausend Kilokalorien am Tag verbrennen, ohne sich das leisten zu können.“
Nun sind diejenigen, die nicht Familien gegründet haben, zurück bei ihren Eltern und Geschwistern. Besser gehe es ihnen dort nicht, sagt Colm O’Connell. Der legendäre Missionar einer irischen Brüdergemeinschaft, 72 Jahre alt, hat einst das Laufen nach Iten gebracht. 25 seiner Schülerinnen und Schüler sind als Weltmeister gesellschaftlich aufgestiegen, vier als Olympiasieger.
Weil nun seine Sichtungs- und Trainingslager ausfallen, bleiben die Talente auf dem Land. „Unter dem Aspekt des Social Distancing sind sie dort richtig“, sagt Bruder Colm.
„Aber sie gehen zurück in Familien in Not.“
Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Dienstag, dem
Michael Reinsch Korrespondent für Sport in Berlin.