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23
07
2019

Ob Olympiasieger Christoph Harting in Tokio dabei ist, bleibt unklar. - Foto: Victah Sailer

Christoph Harting im Interview: „Leistung um jeden Preis? Finger weg!“ – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

By GRR 0

Diskuswerfer Christoph Harting über seine verpasste Jugend, den täglichen Schmerz beim
Aufstehen und Käfige, die falsch stehen.

Im fünften Wettbewerb der Saison haben Sie in Turku mit einem Wurf von 66,01 Meter die
Weltmeisterschafts-Norm erfüllt. In Rabat kamen Sie dann wieder nur 61,02 Meter weit. Wollen Sie
wirklich im Herbst zur WM nach Doha?

Ich halte es mir offen. Wenn ich an den Punkt komme, dass ich sagen kann, ich bin
konkurrenzfähig und ich laufe nicht Gefahr, mich zu verletzen, dann sage ich: Warum nicht? Aber sie ist nicht mein Saisonhöhepunkt.

Das können Sie sich leisten?

Durch die neue Weltrangliste bin ich in der Lage, auch unter Auslassung der WM genug Punkte zu sammeln, um unter die besten 32 zu kommen und mich damit für die Olympischen Spiele in Tokio zu qualifizieren. Weiterhin haben Martin (Wierig) und ich den Entry-Standard von 66 Metern bereits erreicht.

Sie haben in einem Interview Anfang des Jahres deutlich gemacht, dass Ihnen die ganze Diskuswerferei keinen Spaß macht und dass Sie außer Olympischen Spielen eigentlich auch kein Wettbewerb reizt. Kindern raten Sie, niemals Leistungssport zu treiben . . .

Es ist eine Sache, Kindern, oder besser deren Eltern, welche noch nicht in dieser Maschinerie stecken, die noch keinen Hochleistungssport machen, zu sagen: Lasst es! Eine andere Sache ist es jedoch, diejenigen, welche sich darin befinden, zu motivieren.

Ist Ihnen das gelungen?

Der eigentliche Gedanke war ein anderer: Wenn sich andere, jüngere Sportler durch ebendiese Worte gereizt oder herausgefordert fühlen, weil ich ihnen zu nahe getreten bin, habe ich alles richtig gemacht.

Warum „no sports“?

Ich bin für Sport. Unbedingt! Jeder sollte Sport machen. Aber von dieser Schiene, Leistung um jeden Preis zu bringen: Finger weg!

Was ist das Schlimme daran?

Entbehrung. Verzicht. Gesundheitliche Schäden. Man sagt immer, die Jugend sei die schönste Zeit im Leben. Ich hatte keine.

Was fehlt Ihnen? Ich sehe Sie demonstrativ rauchen . . .

Nein. Damit habe ich vor Monaten aufgehört. Ich fand, es war genug.

Worauf müssen Sie verzichten, weil Sie Diskuswerfer sind?

Der Klassiker sind Geburtstage. Da ist man im Trainingslager. Wir führen ein sehr einsames Leben, wenn man sich nicht unmittelbar mit denen auseinandersetzt, die denselben Sport machen. Es ist schwer, am Leben des Freundeskreises teilzuhaben, am eigenen Leben. Es ist eine Blase. Fragen Sie mal unsere Nachwuchssportler, wie viele gute Freunde oder feste Bekannte Teil ihres Lebens sind, die sich nicht mit dem Thema Leistungssport auseinandersetzen müssen. Das muss man sich mal vorstellen: Freunde planen ihre Hochzeiten nach meinem Trainingsrahmenkalender, damit ich dabei sein kann. Als Kind, oder besser im Jugendalter, gibt es diese Rücksichtnahme nicht. Dort wirst du mit der Zeit ausgegrenzt, weil du nicht Teil sein konntest.

Gibt der Sport Ihnen nichts zurück?

Doch. Jeden Morgen. Schmerzen beim Aufstehen.

Wo?

Fragen Sie besser: Wo nicht!

Sie leben von Ihrem Sport. Ist das nichts?

Ich lebe zum Teil vom Sport, denn ich bin in der Sportfördereinrichtung der Bundespolizei. Aber genauso bin ich dort, weil ich den Beruf des Polizeimeisters gelernt habe und ausübe. Ich bin nich der Typ, der wirtschaftlich das Maximale rausholt und sich Sponsor um Sponsor nimmt. Ich mache den Sport aus purem Idealismus. Ich kann das ziemlich gut, und das will ich zeigen. Ich habe es ja schon mal gezeigt . . .

Bei Ihrem Olympiasieg in Rio vor drei Jahren.

. . . und ich kann’s auch wieder zeigen. Ich habe dieses innere Gefühl, dass ich der Beste sein kann, und ich möchte die beste Version von mir werden, die ich sein kann. Wenn ich eines Tages hinter den Buchstaben WR meinen Namen lese, dann kann ich sagen: Es reicht.

Den Weltrekord hält seit 33 Jahren Jürgen Schult mit 74,08 Meter. Außer ihm haben überhaupt nur zwei Diskuswerfer 73 Meter übertroffen und insgesamt nur 22 siebzig Meter, darunter Lars Riedel, Wolfgang Schmidt und Ihr Bruder Robert. Ihre Bestleistung steht bei 68,37 Meter – Rang 55. Der zweite Olympiasieg wäre auch nicht schlecht, oder?

Oder der dritte und der vierte (lacht). Mein früherer Trainer hat gesagt, der Olympiasieg sei das Wertvollste, denn Olympiasieger könne man nur alle vier Jahre werden. Weltrekord dagegen könne man jederzeit in jedem Stadion werfen. Theoretisch. Also: Der Olympiasieg ist ein schöner Ausgleich. Aber die achtzig Meter bleiben für mich das große Ziel. Der Weltrekord. Na ja, auf alle Fälle über 74,08 Meter. Dieser maximalen Weitenentwicklung ordne ich alles unter. Dafür verzichte ich auch auf kurz- und mittelfristige Erfolge. Das heißt: Ich muss nicht Europameister werden, ich muss nicht Weltmeister werden. Mit Olympia bin ich groß geworden: das Fest der Amateursportler. Das mache ich gern mit. Aber im Zyklus meiner Leistungsentwicklung ist es wichtiger, weit zu werfen, als Etappenziele mitzunehmen.

Auf die WM in London 2017 und die Europameisterschaft von Berlin 2018 haben Sie nicht verzichtet. Einmal haben Sie sich bei der deutschen Meisterschaft nicht qualifiziert, beim anderen Mal sind Sie im Olympiastadion von Berlin in der Qualifikation fürs Finale gescheitert.

Das war schade. Hätte ich einen Wurf in den Sektor gekriegt, hätten sie sich aussuchen können, wer Zweiter und wer Dritter wird. Im Ernst: Im nacholympischen Jahr hatten wir das Training halbiert, damit ich regenerieren kann; ich war lange krank gewesen. Klar, dass so keine Leistungssteigerung möglich ist. Aber wir denken an die langfristige Entwicklung, und da können wir uns das rausnehmen. Es war eingepreist, dass ich mich nicht für London qualifiziere.

Berlin aber nicht.

Das war ärgerlich. Da war ich richtig gut drauf. Viele haben gesagt: Hättest du dich umgestellt!

Sie meinen wörtlich: ein paar Grad weitergedreht aufstellen, dann gehen nicht – wie auch
Anfang dieser Saison – alle Würfe an den Pfosten des Käfigs.

Das ist ein bisschen der Running Gag. Ich bin in einer technischen Phase, die ich überwinden muss. Wenn das geschafft ist, habe ich das Problem nicht mehr. Die Schwierigkeit ist, dass dieser Prozess so elendiglich langwierig, so elendiglich kleinkariert, so elendiglich nervig ist.

Es reicht nicht, dass Sie sich anders aufstellen, sondern Sie wollen, dass die Drehung oben
weiter geht?

Ich habe allein bis zum Abheben des rechten Fußes die Möglichkeit, 32 technische Fehler zu machen, und das ist erst der Anfang der Bewegung.

Sind Sie jetzt auf dem richtigen Weg?

Das will ich doch sehr hoffen. Sonst hätte ich 2017 nicht wieder mit dem Sport angefangen. 2017 war ich von der Leistung her stärker als 2016 und 2018 stärker als 2017. 2018 war mein stärkstes Jahr, und 2019 wird stärker werden. Und 2020 wird wieder stärker.

In Rio haben Sie mit 68,37 Meter gewonnen. Das ist Ihre bis heute unübertroffene Bestleistung.

Wir legen den Durchschnitt der besten zehn oder besten fünf Versuche zugrunde. In beidem habe ich mich verbessert. Generell zwingt uns die Entwicklung in der Weltspitze, mitzuziehen. Auch wenn der Absolutwert fehlt, der eine überragende Wurf, wie er mir 2016 gelungen ist, habe ich ein höheres Niveau erreicht als in den Jahren zuvor.

Sie müssen nur noch das Timing hinkriegen.

Ja, ich habe Probleme mit dem Wurfkäfig. Das werden Sie nicht glauben: Der Weltverband hat entschieden, dass der Käfig, wie er bei der Europameisterschaft eingesetzt wurde, nicht regelkonform ist. Ab Ende 2019 darf er, bei entsprechend hochkarätigen Events, nicht mehr benutzt werden. Er ist zu niedrig, und der Pfosten steht dort, wo der Diskus rausfliegen muss.

Sie haben nicht schlecht geworfen, der Käfig stand falsch?

Das ist keine Rechtfertigung. Die anderen sind mit der Situation klargekommen. Außer Piotr Malachowski und mir. Ich will nur sagen, dass das große Konstrukt Diskuswerfen aus vielen Puzzleteilen besteht.

Apropos Puzzle: Was macht Ihr Studium?

Jeder, der behauptet, eine duale Karriere sei in Deutschland möglich, lügt. Ich studiere Psychologie an der Freien Universität Berlin. Zeitlich bin ich im fünften Semester, fachlich im zweiten. Pro Semester kann ich ein, maximal zwei Module machen, weil ich etwa vierzig Stunden pro Woche trainiere. Jetzt geht es um Statistik II. Das Modul findet ausschließlich im Sommer statt. Ich muss nicht zur Uni gehen, ich kann mir den Stoff im Selbststudium aneignen. Das Problem: Zu Statistik II gehört ein Seminar namens Statistik am PC. Dort ist Anwesenheit Bedingung für das Bestehen des Moduls. Wenn ich mehr als viermal fehle, also von April bis August, falle ich durch. Dann ist Hochsaison für mich im Sport; ich bin in Trainingslagern, im Training und bei Wettkämpfen. Der Rat der Hochschule: Nehmen Sie ein Urlaubssemester. Meine Antwort: Bis 2028 wird sich das nicht ändern. Ich werde im Sommer nicht an der Hochschule präsent sein können. Die FU sieht keine Möglichkeit, eine Ausgleichsregelung zu treffen wie zum Beispiel eine Online Teilnahme oder Ähnliches.

Was nun?

Ich kann mein Studium an der FU Berlin nicht fortsetzen. Einfach, weil der Prüfungsausschuss, ohne ihm zu nahe zu treten und ohne ihn zu kritisieren, in seiner Entscheidung fest ist. In einem Fach, das ich mir selbst aneignen könnte. Das bedeutet: Entweder man ist Vollzeit-Student, oder man kann sehen, wie man klarkommt.

Wie geht es weiter?

Ich muss an eine andere Uni, um dort Statistik II belegen zu können. Ob ich dann zurück an die FU gehe und versuche, mir das anrechnen zu lassen, oder ob ich vollständig wechsele, weiß ich noch nicht. Ich kann die ganze Woche trainieren, das ermöglicht mir mein Arbeitgeber. Aber ich kann nicht gleichzeitig studieren. Das lässt die Hochschule nicht zu. Das ganze Seminar dauert übrigens neunzig Minuten pro Einheit.

Das Gespräch führte Michael Reinsch – in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Donnerstag, dem 18. Juli 2019

Michael Reinsch

 

author: GRR