Peking 2008: Usain Bolt verschenkt durch Spielereien einen phantastischen Rekord. Ist er ein Übermensch? Oder ein Betrüger? Die Wahrheit kennen wir bis heute nicht. - 2008 Olympic Games Beijing, China August 8-24, 2008 Photo: Jiro Mochizuki@Photo Run Victah1111@aol.com www.photorun.NET
Blitz und Schatten: Usain BOLT – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Die Zweifel warteten an der Ziellinie. Am Abend des 16. August 2008, auf dem Höhepunkt der Olympischen Spiele von Peking, sprintete Usain Bolt in 9,69 Sekunden in den Verdacht.
Jener Lauf und jener Weltrekord, den 90 000 im Stadion und Abermillionen an den Fernsehgeräten bejubelten, hat die Welt der Leichtathletik und des Sports gespalten. Die einen glaubten. Die anderen verurteilten. Für beides gab es nie einen verlässlichen Beleg.
Unvergesslich, wie Bolt vor zwölf Jahren gut zehn Meter vor der Ziellinie nach einem Blick zurück die Arme ausbreitet und zu jubeln beginnt. Sein raumgreifender Schritt wirkt, weil er nun die Knie anhebt, wie spöttisch. Kein Konkurrent kommt näher. Dennoch ist er nach 9,69 Sekunden im Ziel – so schnell wie niemand vor ihm. Neben mir auf der Pressetribüne springt ein Kollege auf. Mit hochgerissenen Armen brüllt er gegen den ohrenbetäubenden Lärm an. In meiner Erinnerung sind es die Worte: „Betrüger!“ und „Verarsche!“
Alle haben gesehen, dass Bolt, als ihm die Goldmedaille sicher war, einen phantastischen Rekord wegwarf. War das Überschwang? Oder Kalkül? Erst auf dem Video sehen wir, dass Bolt mit offenem Schuh rannte. Wie viel schneller hätte der gerade 21 Jahre alte, 1,95 Meter lange Läufer aus Jamaika sein können? Er ist überzeugt, und das sagt er auch, dass er den Weltrekord auf eine Zeit von 9,5 Sekunden verbessern könnte.
Was bisher Phantasie gewesen wäre, wird im taghell ausgeleuchteten Vogelnest von Peking greifbar. Ein Jahr, bis zur Weltmeisterschaft von Berlin, lässt er sich Zeit, sein Versprechen wahrzumachen. Auf der blauen Bahn des Olympiastadions läuft er 2009 die hundert Meter in 9,58 Sekunden. Niemand anders hat je 9,6 Sekunden im Sprint unterboten. Auch Bolt seitdem nicht mehr. Er selbst kommt der Zeit bei seinem Olympiasieg von London 2012 am nächsten. In 9,63 Sekunden erzielt er die zweitbeste je über hundert Meter gelaufene Zeit.
Jahrelang habe ich vom Profi-Radsport, der Tour de France mit Jan Ullrich und Lance Armstrong berichtet und den Doping-Skandalen dieses Genres. Ich habe gelernt, dass selbst ein Rennfahrer, der auf dem Weg zum Start anhält, um mir im persönlichen Gespräch zu versichern, dass alle anderen voll sein mögen, er aber garantiert nichts anrühre, kurz darauf des dauerhaften Dopings überführt werden kann.
Und ich weiß, wie jeder andere auch, dass Bolt 2008 geradewegs unter die schwarze Wolke des Betrugs rannte, die bleischwer auf der Leichtathletik und besonders auf dem Sprint lastete. Fünf Jahre vor Peking war Balco aufgeflogen, das kalifornische Doping-Labor, aus dem sich, neben einer Reihe von Baseball-Profis, Sprint-Olympiasiegerin Marion Jones und Sprint-Weltmeisterin Kelly White mit Testosteron und Wachstumshormon versorgen ließen, Weltrekord-Sprinter Tim Montgomery und Sprint-Europameister Dwain Chambers. Marion Jones saß, als in Peking der Stern des Usain Bolt aufging, in Texas eine Gefängnisstrafe ab. Justin Gatlin, Sprint-Olympiasieger von Athen 2004, verbüßte seine zweite Doping-Sperre.
Was ich noch in derselben Nacht für die Sonntagszeitung schreibe, liegt nahe: „Bolts Geste der vollkommenen Überlegenheit erinnert daran, wie Ben Johnson bei seinem Skandal-Olympiasieg von Seoul vor Carl Lewis den Zeigefinger in den Himmel streckte. Am 24. September jährt sich jenes Sprintfinale zum zwanzigsten Mal. Johnson lief damals 9,79 Sekunden; der erste Mensch, der unter 9,8 Sekunden sprintete.“ Bolt ist der erste, der 9,7 unterbietet.
Im Interview mit dieser Zeitung noch während der Spiele von Peking zeigt sich der Philosoph Gunter Gebauer empört darüber, dass Bolt verweigert, das aus sich herauszuholen, was er in seinem Körper hat: „Es ist vollkommen klar, dass das nicht mehr menschliche Möglichkeiten sind. Jeder, der auch nur Geringfügiges vom Sport versteht, sieht, dass dort Dinge geschehen, die einfach nicht möglich sind.“ Ben Johnson habe noch so getan, als wäre er nicht gedopt. „Was Bolt gemacht hat, ist kein Falschspiel“, findet Gebauer. „Das ist der Hinweis darauf, dass er in eine neue Sphäre entrückt ist, aufgestiegen in etwas Übermenschliches.“
Bolt überragt und überflügelt die Irdischen nicht nur auf der Bahn. Noch bevor er wie in Peking 2008 auch bei den Olympischen Spielen von London 2012 und Rio 2016 das Double von 100 und 200 Metern gewinnt plus, im jamaikanischen Team, die Sprint-Staffeln, bevor er unbesiegt auch durch die Weltmeisterschaften von Berlin 2009, Daegu 2011, Moskau 2013 und Peking 2015 zieht, schließt er Werbeverträge ab, deren Höhe in der Leichtathletik zuvor undenkbar waren, steigert er sein Startgeld auf den Gegenwert eines Luxuswagens.
Die einzigen Rückschläge sind seine Disqualifikation bei der WM von Moskau für einen Fehlstart über 100 Meter und die Aberkennung seines Sieges 2008 mit der Staffel, weil Mannschaftskamerad Nesta Carter mit einem Aufputschmittel gedopt war. Bolts Show im Stadion, besonders seine Pose, die an einen Blitzeschleuderer erinnert und als Anspielung auf seinen Namen verstanden werden kann – lightning bolt, der Blitzschlag – werden zu Markenzeichen.
So nennt er auch seine Anfang Juli geborene Tochter: Olympia Lightning. Jochen Zeitz, der Vorstandsvorsitzende von Puma, dem Unternehmen, das den jamaikanischen Verband ausstattet und 2003 den sechzehn Jahre alten Bolt unter Vertrag genommen hat, schätzt die Erfolge und den mitreißenden, weltweit übertragenen Jubel Bolts bei den Spielen von Peking auf einen Werbewert von 250 Millionen Dollar.
Auch für den Weltverband IAAF ist der schnellste Läufer der Welt, der noch dazu einer der charmantesten und witzigsten Entertainer ist, ein unermesslicher Gewinn. Präsident Lamine Diack hofiert ihn. „Man kann den Aufstieg des Phänomens Bolt in den Sternenhimmel der Sportgeschichte nicht verstehen, wenn man nicht die Tiefe des Drecks misst, aus dem er sich herausgezogen hat“, schreibt Nicolas Herbelot, Reporter der Sport-Tageszeitung „L’Equipe“, in der Biographie mit dem Titel „Messias gegen seinen Willen“. „Usain Bolt hat seine Legende auf einem Ruinenfeld errichtet, und es ist erstaunlich, in welcher Geschwindigkeit es ihm gelungen ist, dort einen Paradiesgarten wachsen zu lassen.“
Die Betrachtung übersieht, dass 2014 das systematische Doping im russischen Sport auffliegt, zuerst in der Leichtathletik. Im folgenden Jahr wird Diack, kurz nachdem Sebastian Coe seine Nachfolge angetreten hat, am Verbandssitz Monaco verhaftet. Im Juni wurde ihm in Paris endlich der Prozess gemacht wegen Korruption, Untreue sowie der Begünstigung und Vertuschung von Doping. Keine Frage, dass Gebauer mich, ob ich zu Weltmeisterschaften, Olympischen Spielen oder nach Jamaika reiste, stets aufforderte, Bolt endlich zu entlarven. Denn über alle Skandale der Leichtathletik hinaus warf die Anti-Doping-Agentur Jamaikas ein schlechtes Licht auf die Sprinterinnen und Sprinter der Insel, vor allem ihren schnellsten und berühmtesten. Vor Peking wurde sie formal gegründet, nach London entpuppte sie sich als untätig. Schließlich wurde auch noch ihr Vorsitzender als Hochstapler entlarvt.
Selbstverständlich empfing mich Bolt nicht mit Kanüle im Arm. Ganz im Gegenteil: Indem er sich zum Ziel nahm, eine Legende des Sports zu werden, steigerte er die Fallhöhe. Will man so etwas, wenn man befürchten muss, irgendwann des Betrugs überführt zu werden?
Praktisch jeder einzelne der zehn schnellsten Männer der Welt ist mit dem Anti-Doping-Reglement in Konflikt geraten. Als da sind: Ben Johnson und Maurice Green, mit einer Bestzeit von 9,79 Sekunden die Nummern neun und zehn, der eine die Ikone des Dopings von Seoul 1988, der andere Olympiasieger von Sydney 2000, der zugeben musste, einem Doping-Dealer 15 000 Dollar gezahlt zu haben. Nesta Carter und Tim Montgomery, mit 9,78 Sekunden Nummer sieben und acht: Der eine kostet, acht Jahre danach, die jamaikanische Staffel den Olympiasieg 2008 wegen eines Aufputschmittels; der andere gesteht Doping mit Testosteron und Wachstumshormon. Nummer sechs mit 9,76 Sekunden: Christian Coleman, Weltmeister von Doha 2019, verpasst drei Doping-Kontrollen innerhalb eines Jahres. Nummer fünf ist Gatlin (9,74), den das Publikum bei der WM 2017 in London ausbuht, als er mit 35 Jahren Coleman und Bolt besiegt und Weltmeister wird. Nummer vier: Asafa Powell (9,72), drei Monate Sperre für ein Aufputschmittel im Training. Nummer zwei und drei sind Yohan Blake und Tyson Gay mit 9,69; der eine für ein Aufputschmittel für drei Monate, der andere für ein Steroid ein Jahr gesperrt.
Und die Nummer eins? Nichts. Keine versäumte Kontrolle, keine unterschlagene Probe, schon gar keine positive. Allein die schier unerreichbaren Bestzeiten von 9,58 und 19,19 Sekunden auf den beiden Sprintstrecken sprechen im selben Maße gegen ihn wie für ihn. Ist das fair? Der Superlativ, das ultimative Ziel des Athleten, gilt in der Welt des schneller, höher und stärker als Indiz für Betrug. Und selbstverständlich erhöhen auch Doper das Podest, von dem sie stürzen können. Man denke nur an Lance Armstrong, der siebenmal gedopt die Tour de France gewann und sich als Vorbild für den Kampf gegen Krebs inszenierte.
Armstrong überragte alle anderen durch seinen Ehrgeiz; niemals hatte er die Aura desjenigen, der geboren war, die Nummer eins zu werden. Anders der Sprinter aus dem Hinterland Jamaikas. „Usain Bolt wuchs auf in der Unvermeidlichkeit, die Welt zu beherrschen“, erinnert sich Stephen Francis, der Trainer des Konkurrenten Powell. Für die erstaunliche Leistungsfähigkeit von Bolt gibt es keine bessere Erklärung als dessen erstaunliche Leistungsfähigkeit.
Als Bolt 2002 die internationale Bühne betritt, bei der U-20-Weltmeisterschaft im Nationalstadion von Jamaika, ist er längst eine Berühmtheit auf der Insel. Er gewinnt die 200 Meter in 20,58 Sekunden – mit fünfzehn, gegen vier Jahre ältere Konkurrenten. Er gilt als größtes Lauf-Talent Jamaikas. Um ihn zu schützen, bewahren ihn Förderer und Lehrer in der Hoffnung auf eine glorreiche Zukunft vor den erbitterten Wettbewerben mit Gleichaltrigen an den jamaikanischen Oberschulen wie vor dem Wechsel an ein amerikanisches College. Derart verwöhnt verweigert der junge Usain praktisch das Training. Als er 2004 Junioren-Weltrekord läuft, ist sein Trainer Fizz Coleman fassungslos. Ohne dass er trainiert hätte, sei Bolt gerade 19,93 Sekunden gelaufen, staunt Coleman und ruft: „Da kommt etwas Riesiges auf uns zu.“
Verletzt und wohl auch hochmütig scheitert Bolt wenige Wochen später bei den Olympischen Spielen von Athen. Im Vorlauf verliert er drei Zehntelsekunden auf den Deutschen Tobias Unger und scheidet aus. Dieses Tief und der Wechsel zu Trainer Glen Mills machen aus dem überragenden Talent den unerreichbaren Athleten. Für den Maßstab: Unger drückt 2005, ein Jahr nach Olympia, den deutschen Rekord auf 20,20 Sekunden. Bolt gewinnt ein Jahr vor Athen die U-18-Weltmeisterschaft in 20,13 Sekunden. Mit sechzehn.
Ich habe mit eigenen Augen Bolt die 9,69 und die 9,58 und viele weitere Rennen laufen sehen. Zweifel liegen nahe, wo grenzenloser Ehrgeiz im Spiel ist, nationales Prestige und viel Geld. Also im Sport. Auch Bolt gegenüber habe ich mich deshalb um Distanz und Kritik als professionelle Haltung bemüht. An der Zeitmessung und an der Länge der Strecken, die er gerannt ist, habe ich keine Zweifel. An den Kontrollen? Verdammt, ja. Aber das gilt für das gesamte System, nicht die Kontrollen von Bolt allein.
Habe ich Zweifel an der Sauberkeit von Usain Bolt? Es ist unmöglich, sie nicht nachvollziehen und nicht verstehen zu können. Und ja: Ich habe sie auch. Aber: Wenn Zweifel erlaubt, ja geradezu angebracht sind, dann doch erst recht eigentlich auch am Verdacht.
Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Sonntag, dem 2. August 2020
Michael Reinsch Korrespondent für Sport in Berlin.
RETTET UNSERE LÄUFE – SAVE THE EVENTS – Foto: Victah Sailer
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