Amanal Petros hatte bei einem Trainingssturz in Kenia Glück im Unglück und kann weiter für Olympia planen. - Foto: www.photorun.net Hyeres, France December 13, 2015 Photo: Giancarlo Colombo@PhotoRun
Angst um die Familie – Der Marathon seines Lebens – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Amanal Petros unterbietet in Valencia mit 2:07:18 Stunden den deutschen Rekord – Sein großes Ziel aber ist es, seine Mutter und seine Schwestern in seiner äthiopischen Heimat zu finden.
Am Sonntag ist Amanal Petros in Valencia deutschen Marathon-Rekord gelaufen, die 42,195 Kilometer in 2:07:18 Stunden. Im wohl stärksten Marathon der Geschichte – dreißig Läufer unterboten 2:10 Stunden, so viele wie noch nie – reichte das lediglich für Platz 16.
Dies kostete eine große Geste die Aufmerksamkeit der Welt. „Ich war leider nicht ganz an der Spitze, und man konnte mich nicht sehen“, sagt der 25-Jährige über seinen Zieleinlauf. „Ich hatte meine Arme gekreuzt. Damit und mit dem Ergebnis, das ich gebracht habe, wollte ich den Menschen zeigen, was in meiner Heimat passiert.“
Heimat, das ist für den jungen Mann, der in Bochum lebt, der eine Sportförderstelle bei der Bundeswehr hat und beim TV Wattenscheid trainiert, immer noch auch Tigray, die Region im Norden Äthiopiens. Dort, wo Premierminister Abiy Ahmed, der Träger des Friedensnobelpreises, mit der äthiopischen Armee einmarschiert ist, die Regionalregierung in Mek’ele aufgelöst, mindestens 500 Kämpfer getötet und mehr als 100 000 Zivilisten vertrieben hat. Und wo Petros vermutet, nein hofft, dass immer noch seine Mutter und seine beiden Schwestern leben.
Doch seit vier Wochen hat er, wie man oft gedankenlos sagt, kein Lebenszeichen mehr von ihnen erhalten.
Mord und Vergewaltigung, Tod durch Hunger und Durst werden aus Tigray und den Grenzgebieten gemeldet; die Menschen versuchen, sich nach Sudan, Saudi-Arabien und Libyen zu retten. Auf Nachrichtenkanälen in Tigrinya, welche die Region mit Europa und Amerika verbinden, hat Petros von Bombenangriffen auf eine Kirche gehört und von der Sprengung von Telefonmasten. „Während die Welt wegschaut“, hat er vor dem Marathon auf Instagram geschrieben, „löscht ein sogenannter demokratischer Präsident still und heimlich eine ganze Bevölkerung aus.“
Seine Geste des Protests hat er von Feyisa Lilesa, einem äthiopischen Langläufer. Als dieser bei den Olympischen Spielen von Rio 2016 die Silbermedaille gewann, lief er mit gekreuzten Armen über die Linie, um für die Omoro zu demonstrieren, sein unterdrücktes Volk. Er kehrte nie nach Äthiopien zurück und lebt inzwischen in den Vereinigten Staaten von Amerika.
Amanal Petros, Läufer von Beruf, Zweiter der U-23-Europameisterschaft von Bydgoszcz 2017 über 10 000 Meter, Zweiter der Militärweltmeisterschaft von Wuhan 2019 über 5000 und 10 000 Meter, scheint auf der Straße seine Bestimmung gefunden zu haben. Er ist keiner, der davonläuft. Doch Krieg und Flucht haben sein Leben bestimmt. Als er zwei Jahre alt war, floh die Familie aus Eritrea nach Äthiopien; sein Vater starb. Mit sechzehn schlug sich der junge Amanal von Mek’ele nach Europa durch und landete in Bielefeld. Sein läuferisches Talent, das Training im Verein, die Möglichkeit, Volksläufe zu gewinnen, ließen ihn schnell Fuß fassen in seiner neuen Heimat. Drei Jahre nach seiner Ankunft erhielt er die deutsche Staatsbürgerschaft, weitere zwei Jahre später, 2017, ging er zur Bundeswehr. Auf Valencia, den zweiten Lauf auf dieser Distanz, hat er sich mit der deutschen Nationalmannschaft wochenlang im Höhentraining von Kenia vorbereitet.
„Ich warte noch zwei, drei Wochen. Wenn ich in dieser Zeit keine Information von meiner Familie bekomme und der Krieg immer weitergeht“, sagt Amanal Petros am Telefon in Spanien, bevor er zurückkehrt nach Deutschland, „will ich nach Sudan fliegen und meine Familie suchen. Ich hoffe, dass sie nicht geflüchtet ist. Aber ich kann mir auch vorstellen, dass sie dort ist. Ich werde nach Khartum fliegen und zuerst die Flüchtlingslager aufsuchen.“
Allein in Sudan sind nach Angaben des Hochkommissars für Flüchtlinge der Vereinten Nationen mehr als 43 000 Menschen auf der Flucht vor den Kämpfen in Tigray eingetroffen. Viele von ihnen werden in das Lager Um Raquba, rund siebzig Kilometer vor der Grenze, transportiert. Dort und im Lager Hamdayet will Amanal Petros zuerst nach Mutter und Schwestern suchen, dann wird er sich, wenn er dabei erfolglos ist, wohl zu den Grenzorten aufmachen, an denen aus Äthiopien und Eritrea Flüchtlinge nach Sudan strömen.
Zuletzt hat Amanal Petros Mutter und Schwestern vor zwei Jahren gesehen; da besuchte er sie in der Nähe von Mek’ele, der Hauptstadt von Tigray, von der das äthiopische Militär behauptet, sie kampflos erobert zu haben. „Nach Tigray darf ich nicht fliegen“, sagt er. „Die Einreise ist verboten, und als Soldat der Bundeswehr darf ich nicht einfach in ein Risikogebiet reisen. Das könnte Probleme machen.“
Er wird voraussichtlich allein aufbrechen, aber er weiß, dass er nicht der Einzige ist, der Angehörige zu finden versuchen wird. „Es geht mir nicht allein um meine Mutter und meine Schwestern“, sagt er. „Es geht mir um alle Menschen, die keine Wasserversorgung haben, keine Lebensmittel, keinen Transport, keinen Strom, keine Medikamente.“
Er ist zuversichtlich, dass er bei seiner langen Reise ins Unbekannte Hilfe bekommen wird: „Ich hoffe, dass mir Leute helfen werden. Das kriege ich schon hin.“
Ihm steht, wieder einmal, ein Marathon bevor.
Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Montag, dem 7.Dezemeber 2020
Michael Reinsch Korrespondent für Sport in Berlin.