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27
04
2018

Die Entscheidung zwischen Kaiserschmarrn und Pasta hatte ich zugunsten des Herzhaften gefällt, Foto: Dr. Erdmute Nieke

Echt – der Ganze? Marathon in Wien – Impressionen vom 35. Wien-Marathon am 22. April 2018 – Dr. Erdmute Nieke erlebt Wien anders

By GRR 0

Wien ist anders! Entspannter!

Freitag Abend: Vorletzter Flieger von TXL nach Wien, auf den Rolltreppen der Wiener U-Bahnen geht Keiner weiter! Wofür fährt denn die Rolltreppe sonst?

Die Dame an der Pensionsrezeption: Sie kommen wegen des Marathons extra aus Berlin??? Ungläubiges Staunen, verbunden mit dem Bekenntnis auch zu laufen, aber nicht so weit, vielleicht irgendwann mal den Halben. Entspannt eben!

Samstag in der Früh: Messegelände, gleich um 10 Uhr bin ich da, eine riesige Schlange am Einlass, keiner wird ungeduldig oder beklagt sich über dieses Warten. Dann erhalte ich mein Sackl.  

Samstag in der Früh: Messegelände, gleich um 10 Uhr bin ich da, eine riesige Schlange am Einlass, keiner wird ungeduldig oder beklagt sich über dieses Warten.  Foto: Dr. Erdmute Nieke

Wien ist anders! Entspannt irgendwie!

Samstag, tags: Nach der Messe mein Versuch, Wien kennenzulernen, ich laufe schon mal einen kleinen Marathon durch das Naturhistorische Museum Wien. Berühmtestes Ausstellungsstück ist die 29.000-jährige Venus von Willendorf, sie hat wahrlich keine Marathonfigur.

Die 29.000-jährige Venus von Willendorf. Foto: Dr. Ermute Nieke

Nach diesem dreistündigen natur- und kulturhistorischen Marathon vom Saurier bis zur Mineraliensammlung und den Steinzeitmenschen breche ich zur Pastaparty ins Rathaus auf. Ich habe Erinnerungen an Hamburg vor einem Jahr: Pastaparty mit Plasikteller und einer Miniportion, die nach dem Teller und nach sonst nichts schmeckte.

Eine weite Treppe mit rotem Teppich – Foto: Dr. Erdmute Nieke

Hier, in Wien, wird es anders: Eine weite Treppe mit rotem Teppich führt mich in den neogotischen Festsaal des Rathauses! Optisch: Wow! Akustisch: Ein Streichquartett spielt auf der Bühne Wiener Klassik! Wow! Das Essen: Die Entscheidung zwischen Kaiserschmarrn und Pasta hatte ich zugunsten des Herzhaften gefällt, eine freundliche Bedienung hält einen Porzellanteller bereit und meint, dass ich sagen solle, wie viel ich essen mag, darüber frischer Rucola und Parmesan. Lecker! Gespeist wird an Stehtischen mit weißen Stofftischdecken! Wow!

Wien ist anders! Sehr festlich die ganze Veranstaltung!

Samstag Abend: Satt und glücklich bummle ich über den Rathausplatz und erlebe, wie die letzten 10-km-Läufer*innen ins Ziel kommen. Aus den Lautsprechern die Musik aus Peer Gynt von Edward Grieg.

Wien ist anders! Klassisch!

Ich stolpere ins Burgtheater und denke: ‚Schaust Dir mal das Foyer an.‘ und bekomme ganz entspannt an der Abendkasse noch eine Karte. „Jedermann (stirbt)“ von Ferdinand Schmalz, Uraufführung war im Februar 2018. Ich vergesse für zwei Stunden, dass ich morgen einen Marathon laufen werde.

Sonntag in der Früh: Die Läufer*innen siezen sich alle, das fällt mir immer wieder auf.

Dennoch das normale Geplauder über Wettkämpfe hier und da in der U-Bahn zum Start. Einen Marathon läuft irgendwie keiner, alle machen die Hälfte, ich kann es irgendwann an den Startnummern unterscheiden. Knapp 40.000 Menschen finden sich in sechs Startblöcken an der Auffahrt der Reichsbrücke ein. Das Sackl gebe ich am entsprechenden LKW ab. Sicherheitskontrollen? Fehlanzeige. Im Startbereich stehen Angehörige mit Taschen und Rucksäcken und leisten den wartenden Läufer*innen Gesellschaft. Aus den Lautsprechern: Walzermusik!

Wien ist anders! Entspannt in jeder Beziehung!

9.30 Uhr geht die letzte, meine, Startwelle an den Start.

Es ist unglaublich warm für April! So freue ich mich über die schon grünen und blühenden Bäume, die manchmal Schatten spenden, besonders im Prater. Es duftet nach Flieder, aus den aufgehängten Lautsprechern wieder klassische Musik. An einigen Stellen auch die „normale“ Wettkampfbeschallung. Am Schloss Schönbrunn scheint es unter den Läufern einen Touristen-Guide zu geben. Er erklärt, wo wir hinschauen sollen und wer da so gewohnt hat, die meisten Läufer*innen sind jedoch schon von der Wärme zu erschöpft um auf diese Erläuterungen zu reagieren.

Ab km 18 nehmen die Sirenen der Sanitäter extrem zu. Und nicht Wenige liegen oder sitzen an der Stecke, markant in Goldfolien verpackt, mache auch schon am Tropf. Ich beschließe bei diesem Anblick nur noch nach Puls zu laufen. Die Zeit ist mir egal, denn es soll ja nicht mein letzter Marathon werden.

In der Mariahilfer Straße läuten die Kirchenglocken und in den Straßencafes sitzen die Wiener*innen im Sonntagschick und schauen nicht selten verstört auf diese schwitzende Menge.

Nur Wenige feuern die gegen die Hitze Kämpfenden an. Wien ist anders!

Dann bei km 20 teilt sich das Feld, ich könnte jetzt abkürzen, mich als Halbmarathoni werten lassen und auf den Swarovski-Stein in der Medaille verzichten. NEIN, ich will den Stein! Ich biege in die Route für die 42 ein. Doch was ist das, da ist kaum noch Jemand auf der Stecke, es wird nun ein sehr einsames Rennen. Ich freue mich auf jeden Wasserstop, die es wirklich reichlich gibt. Einige Male haben sich Wiener*innen mit Blumensprühern ausgestattet und erfrischen auf Wunsch die letzten Tapferen und besprühen die Gesichter, ich darf nur nicht vergessen bei diesem Prozedere die Brille abzusetzen.

Genauso oft, wie es Wasser gibt, sind Sanitäter an der Strecke, die sorgsam das Läuferfeld beobachten. Keine leichte Aufgabe, inzwischen sind es 27 Grad und kaum Wind und viel Strecke durch die Stadt, große, breite Straßen ohne Schatten. Dann dürfen wir noch einmal durch den Prater, herrlich die schattige Kastanienallee bis km 35, dann kommt allmählich das Ziel in meinen Kopf. Viele haben das Rennen aufgegeben und gehen. Ich laufe durch in meinen Puls und trinke und trinke und trinke. Dann bei km 40 geht es auf den berühmten Ring. Prachtvolle Gebäude der K.u.K.-Monarchie aus der Gründerzeit säumen die Straße, dazu aus den Lautsprechen Peter Tschaikowskis erstes Klavierkonzert, die berühmte Melodie ist ein Ohrwurm. Jetzt bloß nicht heulen vor Rührung, ich habe den Marathon in Wien gleich geschafft!

Ein Zuschauer ruft mir hinterher: „Das sieht elegant aus!“ Wien ist anders!

Dann Zieleinlauf auf einem himmelblauen – absolut passend zum wolkenlosen Himmel – Teppich vor dem Burgtheater! YEHHH! Meine Uhr zeigt 5:35. Egal! Ich bekomme die Medaille mit DEM Stein umgehangen. Ich habe den Wien-Marathon geschafft, schon am Opernhaus bei km 40 hatte ich gehört, dass Dennis Kimetto ausgeschieden sei und ich kleine Hobbyläuferin bin am Ziel. YEHHH!

Sonntag Nachmittag: Mit Sackl und Zielverpflegung hänge ich noch lange –  jetzt im herrlich warmen Sonnenschein –  im blühenden Volksgarten zwischen Burgtheater und Hofburg herum und freue mich, dass ich es geschafft habe.

Sonntag Abend: Frisch geduscht ein kleines Dankgebet im Stephansdom, der Weihrauchduft ist fast zu reichlich. Dann kehre in einen schönen Biergarten ein und gönne mir ein und ein halbes gutes Ottakringer Zwickl! Das zischt!

Montag in der Früh: Ein kräftiges Gewitter begrüßt mich, als ich auf die Straße komme, eine echte Wienerin spannt ihren Regenschirm mit den Worten „Petrus schimpft!“ auf. Eine Wiener Kollegin zeigt mir ihre Schule und stellt mich einigen Kolleg*innen vor, dass ich aus Berlin käme und wegen des Marathons in Wien sei.

Mindestens drei Leute darauf: „Echt, der Ganze? – Wahnsinn!“

Montag Mittag: Jetzt – nachdem ich gestern zweimal dran vorbei gerannt bin – will ich hinauf! Ich fahre Riesenrad im Prater und versuche von oben die Laufstecke nochmal nachzuvollziehen. Es gelingt mir nicht wirklich. Zu verschlungen waren die Wege durch Wien.

Ich fahre Riesenrad im Prater – Foto: Dr. Erdmute Nieke

Montag Nachmittag: Ich besuche einen ganz berühmten Wiener. Am Klingelschild steht wirklich (wieder) „Prof. Dr. Freud“.

Am Klingelschild steht wirklich (wieder) „Prof. Dr. Freud“. Dr. Erdmute Nieke

Gern hätte ich mich mit Sigmund auf seiner berühmten Couch über das Marathon Laufen unterhalten. Welche Neurose ist es, wenn Menschen bei 27 Grad 42,195 km mitten durch Wien rennen und anderer Menschen Sonntagsruhe stören? Doch – die Couch steht in London – denn im dunklen Jahr 1938 musste Freud sein Leben vor den Nationalsozialisten retten und ist mit samt seiner großen Familie, seinem Klingelschild und seiner berühmten Couch ins Exil gegangen. Seine Tochter Anna hat einige Gegenstände ihres Vaters in den siebziger Jahren der Stadt Wien für ein Museum geschenkt.

Was bleibt? Echt der Ganze?! Wien ist anders, entspannt eben: Sigmund Freud und Walzer, Riesenrad und Venus, ein glitzernder Stein auf der Medaille und ganz, ganz viel Sonne!

Dr. Erdmute Nieke

 

 

 

 

 

 

 

author: GRR

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