Blog
24
04
2021

Natascha Baer - Foto: Wilfried Raatz - wus media

Natascha Baer: „Ich wollte nie Läuferin werden!“

By GRR 0

Kaum zu glauben, doch wahr! Aus der früheren Skirennläuferin aus Kandersteg wurde beim Neustart als Läuferin schon nach kurzer „Eingewöhnungszeit“ die Schweizer Marathonmeisterin und Siegerin beim Swissalpine K43 in Streckenrekordzeit

„Früher raste sie den Berg hinunter, heute rennt sie ihn hoch“ charakterisiert Natascha Baer ihre Sport-Karriere kurz und prägnant auf ihrer Website. Das ist freilich arg verkürzt, doch im zweiten Blick verrät ihre Begeisterung für den leistungsorientierten Sport das zweifellos vorhandene Talent.

Mit Vierzehn landete sie nämlich als eines von drei Mädchen ihres Jahrgangs im Nationalen Leistungszentrum Engelberg, der Talentschmiede für junge Skirennläuferinnen. Doch der Tatendrang des Skitalents aus Kandersteg wurde abrupt ausgebremst, Pfeiffersches Drüsenfieber und Kreuzbandrisse in beiden Knien beendeten schneller die Karriere als Skirennläuferin als ihr lieb war. „So bin ich in Engelberg nie wirklich auf Touren gekommen“.

Letztlich waren es die Verletzungen, die sie zum Abschied aus dem Alpinen Skirennsport zwangen. Ob sie eine der Großen der Szene wie ihre erfolgreichen Landsleute Lara Gut-Behrami oder Corinne Sutter geworden wäre, das kann sicherlich nicht mehr beantwortet werden. Sie ist über ihre unglückliche Skirennfahr-Karriere allerdings bestens hinweggekommen – nicht zuletzt, weil sie eine zweite Chance im Leistungssport erhalten hat.

Im ersten (flachen) Marathon wurde nämlich Natascha 2019 beim 3-Länder-Marathon am Bodensee Schweizer Meisterin in 2:52:27 Stunden und als „late entry“ Fünfte beim Jungfrau-Marathon, im gerade zu Ende gegangenen „Corona-Jahr“ 2020 mit nur wenig Startgelegenheiten triumphierte sie beim Swissalpine im Wettbewerb K43 in neuer Streckenrekordzeit wie auch beim Arosa Trail Run AT46. Spekulationen, wie weit es möglicherweise im Skirennsport hätte gehen können, wischt Natascha souverän weg. „Das weiß man nicht und ist auch nicht wichtig!“ Sie hat ihren Weg gefunden und darf sich glücklich schätzen, ihrem geliebten Leistungssport eine weitere Richtung gegeben zu haben.

Über ihre Mutter, die eine begeisterte Läuferin ist, hat sie den Weg zum Ausdauersport gefunden. „Ich wollte nie eine Läuferin werden!“ Und dies vor allem deshalb, weil sie keine neue sportliche Herausforderung gesucht hatte. Doch „das stundenlange Laufen“ hat letztlich auch sie gepackt. Vielleicht auch deshalb, weil sie mehr und mehr die Freude an der Bewegung, dem geregelten Training und vor allem auch das Wettkampffeeling vermisste.

Ihren ersten Lauf bestritt sie zusammen mit ihrer Mutter über die halbe Marathonstrecke. Doch schon 2016 ging sie nach einigen Berglaufrennen und als ihre Trainingsbegleiterin über die Marathondistanz an den Start – ausgerechnet beim Swissalpine über 42 km und 1840 Höhenmeter bergauf und bergab. Zusammen mit ihrer Mutter bewältigte sie dabei die Strecke in etwas mehr als 5 ½ Stunden auf Rang 33 von 224 weiblichen Finishern. Mit stetigen Verbesserungen ihrer Laufzeiten ging es weiter voran, ehe 2019 ein vorläufiger Höhepunkt mit weitreichenden Konsequenzen folgen sollte.

Anfang Juli wurde sie Dritte beim Zermatt-Marathon hinter der bereits beim Jungfrau-Marathon erfolgreichen Aline Camboulives (3:50:00) und Inge Jenny (3:55:16) in 3:55:52 Stunden. Zwei Monate später schaffte sie Rang fünf beim Jungfrau-Marathon – ein weiteres überzeugendes Resultat, das letztlich aber auch die Welt der Natascha Baer verändern sollte. „Mir war hier schon bewußt, dass Langstrecken und Marathon mein Ding sind!“

Richard Umberg, langjähriger Marathoncoach des SLV, Rennleiter des Jungfrau-Marathon und Trainer der zur Weltspitze geführten Franziska Rochat-Moser, überredete die Kanderstegerin noch im Schatten des majestätischen Dreigestirns Eiger, Mönch und Jungfrau zum zielgerichteten Training unter seinen Fittichen.

Mit einem frappierenden, schnellen Erfolg: Natascha wurde vier Wochen später bereits Schweizer Marathon-Meisterin im Rahmen des 3-Länder-am-Bodensee-Marathon. Die Vorgabe von Richi Umberg war dabei eigentlich eher banal, der erfahrene Coach wollte eigentlich eher ihre Leistungsfähigkeit auf einer Marathon-Flachdistanz ausloten.  „Eigentlich bin ich für solche Sachen noch viel zu jung“ gestand sie seinerzeit, ließ sich aber dennoch umstimmen. Und somit auf eine Erfolgsspur bringen, von der sie bislang nur geträumt hatte.

Aus Spaß am Laufen wurden plötzlich ernsthafte und zielgerichtete Bemühungen. Und gestand „Stundenlang in der Gegend herumrennen“ mache ihr Spaß, der eigentlichen Grundvoraussetzung für größere Umfänge, die im Langstrecken- und Marathontraining unerlässlich sind. Richi Umberg gestaltet allerdings ihr Training variabel mit vielfältigen Elementen – und auch den entsprechenden Regenerationswochen. Natürlich ist sie in den Wintermonaten auf Langlaufskiern anzutreffen, in der schneefreien Zeit dann auch mit dem Rennrad. Um ihr Trainingspensum so optimal wie möglich zu gestalten, arbeitet sie derzeit teilzeitmäßig im kaufrmännischen Bereich.

Die massiven Einschränkungen der Corona-Pandemie sind natürlich auch an ihr nicht spurlos vorüber gegangen, aber ihr Leben konnte sie weitgehend „normal“ gestalten. „Für mich hat es keine großen Auswirkungen, außer dass Wettkämpfe nicht stattfinden können. Außerdem trainiere ich ehedem alles alleine…“. Und entspannt sich gerne beim Kochen und Backen!

Als ihren bislang größten Erfolg nennt Natascha Baer den K42-Sieg beim Swissalpine in neuer Streckenrekordzeit von 3;48:44 Stunden vor Sabrina Jenzer, die vier Minuten zurück als Zweite ins Sportzentrum Davos einlief. Und wie geht es bei ihr weiter? Auch darüber hat sie zusammen mit ihrem Trainer klare Ziele für 2021 gesteckt: „Ich möchte Marathon unter 2.48 laufen, beim Swissalpine den K68 laufen und beim Jungfrau-Marathon Top 3 werden!“ Freilich hochgesteckte Ziele, aber gewiss machbare. Auch einen Blick in die Ferne lässt Natascha Baer zu.  „Ich möchte gerne im Schweizer Team bei Berglauf-Europa- und Weltmeisterschaften starten, vielleicht auch einmal Olympische Spiele. „Ziele sind Träume, die wir in Pläne umsetzen. Dann schreiten wir zur Tat, um diese zu erfüllen!“

Richi Umberg ist begeistert von seinem neuen Schützling. „Sie hat extreme Langdistanzausdauer-Fähigkeiten, sehr trainingsfleißig und kann sich sehr gut auf ein Ziel fokussieren.“. Weiß aber auch über ihre Schwächen, die eher im Unterdistanzbereich liegen. So wurde sie bei den in den Herbst verlegten Schweizer Berglauf-Titelkämpfen in Adelboden lediglich Fünfte. „Natascha hat einen Dieselmotor und dadurch auf den Unterdistanzen noch eher chancenlos“. Wer allerdings den Ehrgeiz von Natascha Baer und Trainer Richi Umberg kennt, der weiß, dass diese Defizite schon in kurzer Zeit minimiert werden dürften!

Und dies passt freilich in das Credo von Natascha Baer: „Nicht jeder erhält eine zweite Chance im Spitzensport, umso mehr möchte ich meine nutzen!“

Entnommen aus: Wilfried Raatz: „Berglauf-Journal 2021“, Verlag wus-media UG, www.berglauf.info

Das Berglauf-Journal 2021 – Direktbezug über wus-media UG, Thujaweg 4, 76149 Karlsruhe – Cover: Verfasser

 

 

author: GRR