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21
04
2021

Symbolbild - Kinder und Jugendliche brauchen Sport - Foto: Horst Milde

„Eine verlorene Generation“ – Dramatische Bewegungslosigkeit im Lockdown: Der DOSB fordert von der Politik, sich für Kinder und Jugendliche einzusetzen. Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

By GRR 0

Wir brauchen vor dem Hintergrund des anstehenden Infektionsschutzgesetzes eine Privilegierung der bis Vierzehnjährigen, damit diese Sport treiben können“, fordert Andreas Silbersack, Vizepräsident des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) in einem emotionalen Appell von den Abgeordneten des Sportausschusses des Deutschen Bundestages:

„Setzen Sie sich für die Kinder und Jugendlichen ein!“ In einem Redebeitrag, den er als Hilfeschrei bezeichnete, warnte er am Mittwoch vor den körperlichen und psychischen Konsequenzen der Bewegungslosigkeit im Lockdown ohne Vereins- und Schulsport: „Wir produzieren eine verlorene Generation.“

Alarmstimmung allenthalben. Kerstin Holze, Vorsitzende der Deutschen Kinderturn-Stiftung, die eine motorische Grundausbildung in der Kita fordert, plädierte leidenschaftlich für eine Befreiung der Kinder aus dem Lockdown mit Sportangeboten an der frischen Luft: „Wir müssen jetzt in die Gegenwart unserer Kinder investieren und damit in die Zukunft unserer Gesellschaft.“

„Wir fallen in die sechziger Jahre zurück, weil Behinderte wieder eingeschlossen werden“, warnte gar Lars Pickardt von der Behindertensport-Jugend: „Die Gleichsetzung von Behinderung und Risikogruppe ist falsch.“

Er wolle den Vereins- und Individualsport von den Maßnahmen des Infektionsschutzgesetzes ausnehmen, versprach postwendend der SPD-Abgeordnete Mahmut Özdemir. Als er sich von DOSB, Sportjugend und Behindertensport hatte versichern lassen, dass sie über brauchbare Sicherheitskonzepte verfügten, fühlte er sich bestätigt: „Wir können im Infektionsschutzgesetz bedenkenlos eine solche Privilegierung vornehmen.“ Diese Diskussion werde die aktuelle Debatte in die richtige Richtung lenken, prognostizierte schließlich die Vorsitzende des Ausschusses, die SPD-Abgeordnete Dagmar Freitag. Auch André Hahn von der Linken kündigte an, sich bei der Gesetzgebung für Sport im Freien einzusetzen.

Bei aller Leidenschaft für den Sport von Kindern und Jugendlichen – generell vernachlässigten Politik und Wissenschaft ihn.

Nicht nur der Forschungsstand sei lückenhaft, konstatierte der Sportpädagoge Nils Neuber. Unter den Bedingungen der Pandemie sei die mangelnde gesellschaftliche Unterstützung des Kinder- und Jugendsports deutlicher denn je hervorgetreten. Schließlich führe die digitale Verfügbarkeit von Angeboten zu einer schleichenden, nicht mehr zu übersehenden Veränderung des Sportbegriffs. Trendsportszenen der vergangenen Jahrzehnte würden von einer körper- und fitnessbezogenen Selbstoptimierungsszene abgelöst, die weniger Wert auf soziale Interaktionen lege, als das noch in der Szene von Streetsoccer und Streetbasketball der Fall war.

Professor Neuber, geschäftsführender Direktor des Instituts für Sportwissenschaft an der Universität Münster, wollte die Digitalisierung in der Anhörung nicht verurteilen. Immerhin trainiere die „Generation Workout“ in Ermangelung sinnvoller Alternativen zwar einsam vor dem Bildschirm, sagte er. Angebote von Vereinen, Schulen und Privatpersonen aber hätten viele Kinder und Jugendliche in Bewegung gebracht und ihnen ein wenig Freude in schwieriger Zeit vermittelt. Die Krise verstärke den Trend zu verändertem Nutzungsverhalten, zu Sport on demand. Dies biete Chancen für das individuelle Fitness- und Gesundheitstraining gerade im Jugendalter, berge aber auch Gefahr im Sinne überhöhter, kaum erreichbarer Körperideale. Bildungseinrichtungen sollten darauf unbedingt reagieren, riet Neuber.

Eigentlich hatte sich die von der Linken durchgesetzte Anhörung mit dem gewichtigen Kinder- und Jugendsportbericht befassen sollen, den im Herbst vergangenen Jahres die Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung vorlegte. Unter anderem gravierenden Bewegungsmangel und entsprechende Folgen attestiert das Werk, das unter der Leitung des Kölner Sportsoziologen Professor Christoph Breuer entstand (F.A.Z. vom 30. Oktober 2020). Nun hat die Corona-Krise mit dem Verbot des Vereins- und Mannschaftssports sowie dem weitgehenden Ausfall des Schulsports Trends und Defizite auf alarmierende Weise hervortreten lassen.

Der Wissenschaftler Neuber forderte am Mittwoch wie der Sportfunktionär Silbersack einen Neustart des Kinder- und Jugendsports nach der Pandemie. Dieser solle mit einer Qualitätsoffensive verbunden werden. Es gelte, sagte Neuber, das Potential des Sports zu nutzen, auch um die Gesellschaft insgesamt neu aufzustellen.

Gerade in der Krise würden Kinder und Jugendliche vor allem als Lernende in den Kernfächern des Schulunterrichts angesprochen, nicht als Menschen mit legitimen und entwicklungsbedeutsamen Freizeitbedürfnissen, schreibt Neuber in seiner Stellungnahme: „Während der Profifußball weiter seinem Geschäft nachgehen konnte, wurden die Bewegungs-, Spiel- und Sportmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen über lange Zeit massiv eingeschränkt.“

Die für den Sport zuständigen Minister der Länder werden sich im November auf ihrer Konferenz in Koblenz mit seinen Erkenntnissen, Thesen und Forderungen befassen. Doch wegen der gesamtgesellschaftlichen Bedeutung des Themas fordert Neuber auch das Engagement des Bundes: mit systematischem Vernetzen, ressortübergreifender Zusammenarbeit und Beratung zur Förderung junger Menschen.

Darüber hinaus solle der Bund, etwa mittels des Ministeriums für Bildung und Forschung, für systematische wissenschaftliche Berichterstattung sorgen; etwa mit einer eigenen Untersuchung von der Dimension des Kinder- und Jugendsportberichts. Die letzten großen Arbeiten zur Wirkung von Schul- und Jugendsport, klagt Neuber, seien fünfzehn und zwanzig Jahre alt.

Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Donnerstag, dem 15. April 2021

Michael Reinsch

Korrespondent für Sport in Berlin.

 

author: GRR