Symbolbild - Foto: Horst Milde
Ein Däne schlägt auf der „Ronde van Vlaanderens“ 2021 alle Favoriten – Menschenleere Straßen auf Belgiens größter Sportveranstaltung – Von KLAUS BLUME
OUDENAARDE – Mit dem Überraschungssieg des dänischen Meisters Kasper Asgreen endete am Ostersonntag die „Ronde van Vlaanderens“ – das anspruchsvollste Eintags-Radrennen der Welt. Es war nach 1997, als Sören Sörensen gewann, der zweite dänische Erfolg in Belgien.
1968 bin ich zum ersten Male zur klassischen „Ronde van Vlaanderen“ nach Belgien gereist – und fortan alle Jahre wieder. Nur nicht in den letzten beiden Jahren – coronabedingt. Der leider viel zu früh verstorbene belgische Kollege Harry van den Bremt, jahrzehntelang „Radsportchef“ – ja, so was gibt‘s wirklich im Radsportland Belgien – des angesehenen Brüsseler „Nieuwsblad“, führte mich seinerzeit in die Kreise der sogenannten „Asphalt-Reporter“ ein; eine Art Ehren-Titel, mit dem sich in diesen Ländern die Radsport-Journalisten schmücken.
Harry sorgte dafür, dass auch ich mich den bizarren Initiationsriten gestandener Velo-Berichterstatter unterziehen musste. Im Café „De Zwaan“ zu Sint Niklaas – auf dessen riesigem Marktplatz jahrelang die Flandern-Rundfahrt gestartet wurde – galt es am Abend zuvor, die so genannte „flämische Etappe“ zu absolvieren, bei der jedem Glas Bordeauxwein ein kräftiger Schluck Armagnac zu folgen hatte.
Und dass dabei jeder Prüfling die ersten drei eines beliebigen Frühjahrs-Rennens fehlerlos aufzählen musste – und zwar rückwärts. Das Stichwort dafür, also die Jahreszahl, gab, wer angeblich keinen Armagnac mehr vertrug. Zu später Stunde schaute dann auch immer wieder Briek Schotte vorbei, einer der ganz Großen des flämischen Radsports: Flandern-Sieger 1942 und 1948. Er gab damals das eine oder andere aus seinem Team preis, was mir – dem Neuling aus Deutschland – allerdings wie ein Gemeimcode vorkam, den ich anfangs partout nicht zu entschlüsseln vermochte. Nicht nur der Sprache wegen. Aber über die Jahre hat sich das gegeben.
Auch das gehört zum belgischen Radsport – wie Eddy Merckx und Brief Schotte. Auch, dass man bei einem großen Rennen – wie am Ostersonntag – rund eine Million Zuschauer an den Straßenrändern zu erwarten hatte. In diesem Jahr war alles anders. In diesem nun schon zweitem Corona-Jahr rollte die 105. Flandern-Rundfahrt von Antwerpen ins westflämisch Oudenaarde über 254,3 Kilometer und elf schlimme Steigungen. Sie sollte weitgehend durch menschenleere Straßen. Denn selbst diejenigen, die direkt an der Strecke wohnen, durften nicht vors Haus treten. Und wer an den Kopfsteinpflaster-Straßen zu Hause ist, durfte niemanden zum Zuschauen einladen. 650 Offizielle überprüften diese Anordnungen.
Ein Freund, Emile aus Brügge, dem einstigen Startort der Ronde van Vlaanderen, der ein Vermögen mit edelster Seife gemacht hat, und mich manchmal in seinem altersschwachen Bentley über die Kopfsteine dieses flämischen Rennens geschaukelt hat, sprach dabei gern vom wichtigsten Pionier des flämischen Radsports, von Karel Van Wijnendaele. Als Rennfahrer mittelmäßig, als Teamchef ein erstklassiger Stratege, als Journalist ein Großer und als Organisator ein Unsterblicher. So ging der 1892 geborene und 1961 verstorbene Flame aus Gent in die Annalen des internationalen Radsports ein. Karl Steylaert, wie er mit bürgerlichem Namen hieß, hatte 1911 daheim in Gent und Brügge die Einrichtung abendlicher Volkshochschulen voran getrieben, in denen die Flamen, des Französischen überdrüssig, endlich in ihrer Sprache lesen und schreiben lernten.
Als Anreiz fürs mühselige Büffeln schrieb Wijnendaele spannende Volksstücke in flämischer Sprache, in denen die kleinen Leute, Bauern und Fischer, die Hauptrollen spielten: Er gründete 1912 das Brüsseler Blatt „Sportwereld“, das heute noch der Tageszeitung „Het Nieuwsblad“ beiliegt und erfand 1913 – was sonst? – die Ronde van Vlaanderen.
Diese und ähnliche Geschichten haben mich Jahr für Jahr in das Land zwischen Nordsee und Ardennen gelockt – viele Wochen lang. Und wenn es dann Hunde und Katzen geregnet hat, wie Tyl Ulenspiegels Nachkommen spotten, stoppten wir gegen Mittag wie selbstverständlich vor dem Velo-Cafè „t’ Vliegend Peerd“ zu Kanegem., um dort – ohne Verabredung – Briek Schotte zu treffen. In einer Radsportkneipe, wie es so viele hier gibt: graue Backsteinfassade, gardinenfreie Fenster, über der Tür die grelle Brauerei-Reklame und davor meist ein pitschnasses Fahrrad.
Am 4. April 2004 ist Briek Schotte, der Weltmeister von 1948 und 1950, gestorben. Seitdem sitze ich allein im „Vliegend Peerd“.
Wer sollte sonst schon kommen?
Klaus Blume
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