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Ryan Crouser - 2019 Brussels Diamond League Brussels, Belgium September 06, 2019 Photo: Giancarlo Colombo@PhotoRun Victah1111@aol.com

Rekorde im Kugelstoßen: Die Erben der Dinos – Ein Kommentar von Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

By GRR 0

Kugelstoßer Ryan Crouser ist auf bestem Weg, die Bestmarken aus dem Zeitalter der Steroide zu übertreffen. Die sportliche Inspiration holt sich der Amerikaner dabei ausgerechnet von einem Bannerträger des dopinggetriebenen DDR-Sports.

Selbst mit seinem drittbesten Versuch vom Wochenende wäre Ryan Crouser noch auf Rang vier der Weltrangliste im Kugelstoßen vorgedrungen.

Da er den Wettbewerb in Fayetteville in Arkansas, wo er lebt und als Trainer arbeitet, aber nicht mit 22,48 Metern, dem Ergebnis seines dritten Stoßes, nicht mit 22,70, dem Resultat seines zweiten, sondern mit 22,82 Metern begann, hält der 28 Jahre alte Amerikaner nun den Hallen-Weltrekord – eine Bestmarke, die 32 Jahre lang im Besitz seines Landsmannes Randy Barnes war.

Die Dramaturgie war nicht so gut wie in Rio de Janeiro 2016. Als er dort Olympiasieger wurde, steigerte Crouser seine Bestleistung dreimal und erreichte schließlich 22,52 Meter. Bei der Weltmeisterschaft von Doha 2019 war er einer der drei, die 22,90 Meter übertrafen. Um einen Zentimeter verpasste er den Titel.

Crouser, 2,01 Meter groß und gut 140 Kilo schwer, ist Spitze in der neuen Welle des Kugelstoßens. So weit wie er hat seit Ulf Timmermann, Olympiasieger von Seoul 1988, kein Mensch mehr unter einem Dach die eiserne Kugel von sechzehn englischen Pfund gestoßen. Seine Bestleistung im Stadion steht seit dem Sommer 2020 bei 22,91 Metern. Gemeinsam mit Kovacs ist er angetreten, die Bestmarken aus dem Zeitalter der Steroide zu übertreffen.

Eine unglaubliche Leistung

„23,13“ hat Crouser sich mit Filzstift auf den Badezimmerspiegel geschrieben, wie er gern erzählt: die Weite, mit der er Barnes’ Weltrekord „outdoor“, den, der wirklich zählt, um einen Zentimeter übertreffen würde. Barnes steigerte im Mai 1990 die Bestmarke, die Timmermann zwei Jahre zuvor auf jenseits der 23 Meter getrieben hatte, um sechs Zentimeter auf 23,12 Meter – eine buchstäblich unglaubliche Leistung. Barnes wurde zweimal wegen Dopings gesperrt, Timmermann war Bannerträger des dopinggetriebenen DDR-Sports.

Der Athlet aus Ost-Berlin avancierte dennoch zum Helden des jungen Crouser. Hundert-, vielleicht tausendmal will der Amerikaner sich auf Youtube angeschaut haben, wie der alte Meister mit überlegener Technik durch den Ring glitt und die Kugel von mehr als sieben Kilo Gewicht in eine perfekte ballistische Kurve katapultierte. Gut möglich, dass die Faszination jener Tage vergleichbar ist mit der von Kindern für Dinosaurier.

Längst scheint die Technik, der allein David Storl aus Chemnitz, Weltmeister 2011 und 2013, treu zu bleiben scheint, vom Drehstoß verdrängt zu sein. Crouser, Kovacs und Co haben jedenfalls im Kugelstoßen mit Dreh um die eigene Achse eine Leistungsexplosion ausgelöst, die an die Revolution des Hochsprungs durch Dick Fosbury erinnert. Im Training, erzählen sie, hätten sie beide schon 23 Meter übertroffen.

Mit der Prognose, dass der Weltrekord gewiss bald fallen werde, erinnert das Kugelstoßen fast schon an die unheimliche aktuelle Entwicklung im Laufen.

Hier allerdings liegt es garantiert nicht an den Schuhen.

Ein Kommentar von Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Dienstag, dem 26. Januar 2021

Michael Reinsch

Korrespondent für Sport in Berlin.

author: GRR