Michael Reinsch - Foto. Horst Milde
Breitensport und Corona-Krise: Die Vereine glauben an die Treue – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Während die Länder dem Sport mit Sofortprogrammen und Millionen helfen, warten die Vereine so bangend wie hoffend: Kommt doch keine Austrittswelle? Immerhin haben die Sportler einen entscheidenden Vorteil.
Die Sportnation Deutschland ist geteilt. Wie unterschiedlich die Länder mit der Corona-Krise umgehen, zeigt sich im überraschenden Auftauchen von Grenzen, die im Alltag keine Rolle spielten.
Mitglieder des Golf-Clubs Bremer Schweiz etwa dürfen nur neun der achtzehn Löcher ihres Platzes bespielen. Die anderen liegen in Niedersachsen, wo ihr Sport, obwohl er einzeln und an der frischen Luft betrieben werden kann, bislang nicht erlaubt war.
Die Tennisspieler der TSG Bergedorf in Hamburg brauchten, weil auch ihre Anlage auf einer unsichtbaren Landesgrenze liegt, eine Ausnahmeregelung aus Kiel. Diese befreit sie vom Verbot des Tourismus in Schleswig-Holstein und erlaubt ihnen seit Montag, wieder ihren eigenen Platz zu betreten. Boris Schmidt, der Vorsitzende der TSG und des Freiburger Kreises, in dem sich die größten Sportvereine Deutschlands zusammengeschlossen haben, amüsiert sich über diese Episode.
Er hat nicht viel zu lachen dieser Tage; immerhin erlaubt Hamburg seit Dienstag einzelnen Personen wieder Sport im Freien. An diesem Mittwoch wird von der Bundeskanzlerin und den Ministerpräsidenten erwartet, dass sie nicht nur entscheiden, ob die Fußball-Bundesliga ihre Meisterschaft zu Ende spielen darf, sondern auch, dass sie das pauschale Verbot von Sport zur Vorbeugung der Covid-19-Pandemie lockern.
Der Betrieb der TSG Bergedorf mit 11.000 Mitgliedern und eigenen Sportanlagen ruht. Kursgebühren, auch für den Reha- und Gesundheitssport, entfallen, die Gaststätten sind geschlossen, niemand bucht Plätze und Hallen. Die 150 hauptamtlich Beschäftigten hat Schmidt in Kurzarbeit geschickt; der Verein stockt deren sechzig Prozent vom Lohn auf. Trotz Stillstands laufen Monat für Monat 30.000 Euro Kosten auf. Für sie haben die Bergedorfer, Tücke des Vereinsrechts, keine Rücklagen bilden dürfen.
Die Lage der TSG sei typisch für die Großvereine des Landes, sagt Schmidt. Personal, Anlagen und womöglich Zins und Tilgung für deren Finanzierung – die 180 größten Klubs des Landes mit mehr als einer Million Mitgliedern sind existentiell bedroht. Kleine Klubs, die ehrenamtlich geführt werden, kommunale Anlagen benutzen und vom Beitrag ihrer Mitglieder leben, mithin die Mehrzahl der 90.000 Sportvereine Deutschlands, stehen in der Krise besser da.
Zumal der Kündigungstermin 30. Juni viele Vereinsmitglieder vor die Loyalitätsfrage stellt: bleiben und zahlen ohne Gegenleistung? Größe bedeutet in diesem Fall Distanz. „Die Mitglieder ziehen nicht alle mit“, beobachtet Schmidt. Der erwartete Zuwachs von 450 Mitgliedern in den vergangenen sieben Wochen, Jahr für Jahr statistisch belegt, ist in der Flaute ausgeblieben. Schmidt sagt, er wäre froh, wenn es bei den tausend Austritten zur Jahresmitte bleibe, die es Jahr für Jahr gebe.
Bergedorf kann sich, wie alle Vereine und Verbände der Stadt, auf den Staat verlassen. Hamburg habe schnell und unkompliziert auf die Krise reagiert, lobt Schmidt. Der Nothilfefonds von fünf Millionen Euro, aus dem Zuschüsse an Unternehmen gezahlt werden, stehe auch Sportvereinen offen. Hamburg kombiniert darüber hinaus Bundes- und Landesförderung. Vereine mit bis zu zehn Beschäftigten werden an den Bund mit seinem Programm für Solo-Selbständige und Kleinstbetriebe verwiesen; für Großvereine wie Sportspaß, Eimsbütteler Turnverein und eben Bergedorf gibt es Liquiditätshilfe von der Hansestadt. Fünfzig Millionen Euro stehen darüber hinaus für Förderkredite zur Verfügung. Hamburg ragt unter den Ländern heraus, weil es professionellen und semiprofessionellen Sport mitgedacht hat.
Praktisch jedes der sechzehn Länder greift dem Sport unter die Arme. Bayern hat seine Vereinspauschale in der Krise auf vierzig Millionen verdoppelt, wirtschaftlich engagierte Vereine erhalten Soforthilfe. Bremen weist seinen Vereinen die Übungsleiterpauschalen an, die diese im vergangenen Jahr erhalten haben, und erlässt ihnen für geschlossene Sportstätten die Miete. Mecklenburg-Vorpommern hat kurzfristig 3,5 Millionen Euro nachgelegt für Sport und Vereine, Schleswig-Holstein 12,5 Millionen, Nordrhein-Westfalen 13 Millionen, Hessen 15 Millionen, Sachsen 20 Millionen.
Der Senat von Berlin, wo Sportvereine berechtigt sind zu Unterstützung durch die mit zwei Milliarden Euro ausgestattete Soforthilfe für die Wirtschaft, hatte am Dienstag einen Rettungsschirm für den Sport auf seiner Sitzungsordnung. Volumen: sechs Millionen Euro. Die Zuschüsse für Übungsleiter, das Herz des Vereinssports, hat er bereits von 1,9 auf 3,2 Millionen Euro erhöht. Sie können auch für telefonische Mitgliederbetreuung, für Online-Kurse und für die Entwicklung von Konzepten abgerechnet werden. „Uns wird große Wertschätzung entgegengebracht“, sagt Friedhard Teuffel, Direktor des Landessportbundes (LSB) Berlin. „Wir versuchen, das zurückzugeben.“
Der Notfallfonds, den der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) von der Bundesregierung fordert, existiert dagegen noch immer nicht. Ein Wirtschaftsprüfungsunternehmen ist damit beauftragt, den Schaden bei Vereinen und Verbänden aufzunehmen. Das dauert.
DOSB-Präsident Alfons Hörmann spricht bereits von einer Milliarde Euro. Die Bundestagsabgeordnete Dagmar Freitag, Vorsitzende des Sportausschusses, verweist auf die Programme des Bundes und der Länder. „Es gibt viele gute Gründe, jetzt genau hinzuschauen, wo bestehende Programme greifen und wo vielleicht auch nicht“, sagt die SPD-Politikerin. „Aber das geht nur mit Augenmaß und auf Basis verbindlicher Daten. Aber klar ist: Niemand möchte, dass der Sport mit seinen vielen Facetten vor die Hunde geht.“
Auch beim DOSB weiß man, dass nicht jede Einbuße und jeder Schaden in Heller und Pfennig zu bemessen ist. Gleichwohl solle die Öffentlichkeit erfahren, ist die Überzeugung dort, was sie durch die Krise zu verlieren droht.
Nicht allein die Aussicht, dass mit der bundesweiten Erlaubnis zu Sport in kleinen Gruppen und nur an der frischen Luft am Mittwoch der erste kleine Schritt zurück zu einer Normalisierung getan werden soll, lässt wie Boris Schmidt in Bergedorf auch Friedhard Teuffel in Berlin Zuversicht und Optimismus ausstrahlen. Der LSB-Direktor sieht in der Krise auch eine Chance. In Podcasts, digitalen Sprechstunden und Online-Kursen überwindet der Sport Distanz und Kontaktverbot, vertreibt Einsamkeit und belebt, da Sporthalle und Schwimmbad gesperrt sind, Wohnzimmer, Terrasse und Balkon. Deshalb auch fährt der Landessportbund den Betrieb seiner Sportschule wieder hoch. Die Ausbildung von Übungsleitern werde im Austausch mit den LSB anderer Länder digitalisiert und damit weiterentwickelt. Die Krise verlangt dem Sport Innovation ab.
Auch Teuffel fragt sich, ob es zum 30. Juni eine Austrittswelle unter den knapp 700.000 Mitgliedern der Berliner Sportvereine geben wird.
Zugleich beobachtet er Solidarität. „Die Menschen kriegen im Verein für einen kleinen Beitrag eine große Leistung“, sagt er, „etwas, das sich nicht kaufen lässt. Das macht den Sportverein aus, und das veranlasst viele, ihm treu zu bleiben.“ Er erwartet an diesem Mittwoch eine Entscheidung von Kanzlerin und Ministerpräsidenten, die den Klubs und ihren Mitgliedern eine Perspektive eröffnet.
„Wer anders soll den Bürgern die Regeln beibringen, Abstandhalten und Maskentragen, als die Trainer im Verein?“, fragt Schmidt, der das als ehemaliger Basketball-Schiedsrichter möglicherweise besonders deutlich sieht. „Regeln und Werte einhalten, das können wir im Sport wie keine andere Organisation.“ Teuffel, vor gut zwei Jahren noch Journalist, sieht es genauso.
„Unsere Übungsleiter und Übungsleiterinnen können besser auf Regeln achten und sie besser durchsetzen als etwa ein Busfahrer oder eine Verkäuferin im Supermarkt“, sagt er. „Sie kennen jeden Einzelnen in ihrer Gruppe. Das ist unser Pfund. Wir können das Risiko minimieren.“
Der Sport, eingeschränkt wie kaum je zuvor, scheint nicht bereit, sich Grenzen setzen zu lassen.
Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Mittwoch, dem 6. Mai 2020