Wolfgang Konrad (r.) und Gerhard Wehr - Foto: Horst Milde
Spaziergang auf der Rasierklinge: „Ich hoffe, dass alle gut durchkommen“ – Wolfgang Konrad vom Wien Marathon
Veranstalter Wolfgang Konrad im Interview nach der Vienna City Marathon Absage über Emotionales, Wirtschaftliches, Solidarität und was sich ändern wird.
Wie ist drei Wochen nach der Absage der Zustand bei Ihnen und im VCM-Organisationsteam?
Emotional haben wir das Tal der Tränen durchschritten und wir blicken nach vorne. Wirtschaftlich stehen wir noch mittendrin. Es war eine sehr einschneidende und weitreichende Entscheidung. Aber wir müssen es in Perspektive rücken. Die Gesamtsituation vieler Menschen und unseres ganzen Landes wird schwierig genug werden. Die Maßnahmen sind notwendig und wir müssen alle klug sein, besonnen bleiben und durchhalten.
Wie hoch ist der entstandene Schaden?
Wir haben noch nicht in allen Bereichen die Zahlen. Wir müssen weiterhin Gespräche mit Lieferanten, Reisebüros, Partnerfirmen und Sponsoren führen. Unser Team hatte den Großteil der Planungsarbeiten bereits abgeschlossen und bezahlt. Drei unserer vier Bewerbe der VCM Winterlaufserie, die wir heuer für unsere Teilnehmer kostenlos angeboten haben, waren auch schon abgehalten. Aber jetzt fehlen viele Einnahmen. Es kommt momentan kein Geld herein, aber vieles muss noch bezahlt werden. Der Schaden wird zwischen 1,5 und 2 Millionen Euro liegen.
Wie stehen die Sponsoren nach der Absage zum Vienna City Marathon?
Wir haben alle kurz vor der Bekanntgabe informiert. Viele sagen: ‚Wir lassen euch nicht im Stich’ oder ‚Wir müssen darüber reden‘. Ich verstehe jeden, der sich in der jetzigen Situation die Optionen offenhält. Ich würde auch nicht anders agieren. Ich bin aber zuversichtlich. Es ist eine unserer großen Stärken, dass wir mit relativ einfachen Budgetmitteln viele Menschen erreichen, denen wir positive Emotionen bieten können. Da tun sich andere Sportarten schwerer, ich möchte nicht Fußball und Formel 1 über Sponsoren finanzieren müssen.
Hat der VCM eine Versicherung für den Fall der Absage?
Nein, die Versicherungsprämie wäre so hoch, dass es für uns nicht finanzierbar ist. Hier ginge es jährlich um einen beträchtlichen Millionenbetrag. Man müsste eine solche Versicherung in die Nenngebühren und Sponsorgelder einpreisen, das wünscht sich wirklich niemand. Und selbst wenn eine Versicherung bestehen würde, wäre es noch lange nicht klar, ob dann im Ernstfall tatsächlich ausbezahlt würde.
Wir erleben ein Frühjahr 2020 ohne Laufevents. Welche Auswirkungen hat das auf die österreichische Lauflandschaft?
Die Frage ist, wie lange die Beschränkungen anhalten. Die Folgen von Absagen sind weitreichend. Das beginnt bei den Träumen, Leidenschaften und in manchen Fällen auch den Verdienstmöglichkeiten von Läufern, die zusammengestürzt sind, und es führt zu existenziellen Problemen in vielen Bereichen. Ich wünsche mir sehr, dass die Veranstalter, die jetzt ebenfalls absagen mussten oder auf einen Herbsttermin hoffen, gut durch die Krise kommen werden. Kein Verein, kein Team, keine Agentur steckt eine Absage einfach so weg, auch wir nicht. Der Laufsport in Österreich hat aber enorme Bedeutung in jeder Hinsicht. Absagen haben größere Auswirkungen, als man auf den ersten Blick sieht.
Was meinen Sie konkret?
Ich will die Probleme des Laufsports nicht in den Mittelpunkt stellen, da sehe ich sehr wohl die Gesamtsituation. Aber viele Firmen, Dienstleister, EPUs und deren Familien, mit denen wir seit Jahren zusammenarbeiten, stehen wirtschaftlich vor dem Nichts. Für die gesamte Eventbranche – Techniker, Cateringunternehmen, Handwerker, Moderatoren, Fotografen, Zeitnehmer ect., ist die Geschäftsgrundlage über mehrere Monate weggebrochen. Auch die Sanitätsdienste erleiden finanzielle Einbrüche durch den Wegfall von Events, obwohl sie es sind, die momentan am meisten gefordert sind. Die Tourismusbranche verliert allein durch den VCM über 130.000 Nächtigungen. Dem Sportartikelhandel entgeht mit der Absage vieler Laufveranstaltungen und dem Marathon ein wesentlicher Umsatz-Impuls im Frühling. Beim VCM verdienen kleine Sportvereine durch ihre Mithilfe einen beträchtlichen Teil ihres Jahresbudgets. Charity-Organisationen haben beim Vienna City Marathon allein im Vorjahr 170.000 Euro Spenden gesammelt. In abgewandelter Weise trifft das auch auf andere Laufveranstaltungen in Österreich zu, egal welcher Größe. Österreichs Volksläufe sind in der Gesamtheit durch ihre Beiträge zur Aufnahme in den Laufkalender und die Gebühren zur Durchführung von Staatsmeisterschaften auch ein Sponsor des Österreichischen Leichtathletik-Verbandes. Es würde viel fehlen – sportlich, wirtschaftlich, gesundheitlich und einfach für die Lebensqualität – wenn Laufevents verschwinden.
Gelaufen wird aber trotz der Pandemie, vielleicht sogar mehr denn je. Wie beurteilen Sie das?
Man könnte mit etwas Humor sagen, die Ausgangsbeschränkung war eine der wirksamsten Bewegungsinitiativen, die es in Österreich je gegeben hat. Solange sich alle strikt an den nötigen Abstand halten und vernünftig damit umgehen, ist es sehr gut. Es zeigt, wie wichtig den Menschen das Laufen ist und wie das Laufen dabei hilft, schwierige Situationen zu bewältigen. Man sieht plötzlich Leute laufen, die noch nie laufen waren. Es manifestiert sich einmal mehr, dass Laufen das Einfachste ist, was Du machen kannst. Das stimmt mich zuversichtlich. Man sieht auch, dass sich viele Leute plötzlich freundlich grüßen. Ich bin überzeugt, wenn Veranstaltungen wieder möglich sind, wird ein riesiges Interesse bestehen.
Eine häufige Frage von Läuferinnen und Läufern betrifft die Nenngebühr für eine Veranstaltung, die jetzt nicht stattfindet. Wohin gehen beim VCM die Überlegungen?
Wir haben bei der Absage angekündigt, dass wir mit einem Kulanz-Angebot auf unsere Teilnehmer zukommen werden. Dafür bitten wir noch um Zeit. Die Kollegen vom Köln-Marathon haben die Problematik in sehr lesenswerter Weise dargestellt. Alle Veranstalter werden jetzt eine Lösung unter Berücksichtigung ihrer Möglichkeiten prüfen. Ich hoffe, dass die gemeldeten Läufer sich mit den Veranstaltern in dieser schwierigen Situation solidarisch zeigen und deren sicherlich gut überlegte Angebote annehmen. Wir sind im intensiven Austausch mit Veranstaltern in Österreich und im Ausland. Wir kennen auch deren Sorgen und Nöte. Es geht jetzt darum, dass Laufveranstaltungen jeder Größe, die für so viele positive Emotionen und Freude sorgen, weiter bestehen bleiben können.
Alle großen Laufveranstaltungen haben in ihren AGB´s seit Jahrzehnten geregelt, dass bei Absage im Falle höherer Gewalt keine Rückerstattung vorgesehen ist. Es gibt die rechtliche Seite und die emotionale Seite. Die Läufer sind unsere Kunden, denen wir ein Angebot liefern wollen, weil wir zufriedene Kunden brauchen. In welcher Form das möglich ist, daran arbeiten wir noch. Das wird aber ein Spaziergang auf der Rasierklinge. Die rechtliche Seite und die wirtschaftliche Seite, egal auf welche Seite das Pendel hinfällt, es wird eine Herausforderung.
Eine verbreitete Meinung ist, dass der VCM ohnehin durch die Stadt Wien organisiert und finanziert wird. Stimmt das so?
Wir sind ein privater und unabhängiger Veranstalter. Unsere wichtigsten Einnahmequellen sind Nenngebühren und Sponsoren. Hinter dem VCM steht keine Stadt oder öffentliche Institution, die das Event auffangen würde. Der Anteil öffentlicher Mittel am Gesamtbudget liegt im einstelligen Prozentbereich. Wir tragen selbst das volle Risiko, und das seit über 30 Jahren.
Was erwartet uns im Laufherbst 2020?
Ich hoffe natürlich, dass zu diesem Zeitpunkt die Beschränkungen aufgehoben sind und Veranstaltungen stattfinden können. Wir dürfen aber nicht erwarten, dass mit einem Schlag alles so ist, wie es einmal war. Durch Verschiebungen wird es zu einer Ballung im Laufprogramm kommen, wie wir das noch nie hatten. Die Zahl der Läufer wird bis dahin in der Gesamtheit aber wohl nicht sprunghaft ansteigen, das muss allen bewusst sein. Durch die Terminänderungen im Sport-, Event- und Messebereich kann es auch zu Engpässen bei den Zulieferfirmen und Logistikpartnern kommen.
Wird sich der VCM 2021 gegenüber den bisherigen Events verändern?
Nach dem Ausfall wird die Vorfreude auf 2021 umso größer. Die Rahmenbedingungen für nächstes Jahr kennen wir noch nicht. Der VCM wird vielleicht ein anderer sein. Ich will aber nicht sagen: ein schlechterer. Ich brauche nicht unbedingt sieben Vidiwalls, um die Zuschauer zu informieren. Es wird generell in unserer Gesellschaft vieles in Frage gestellt werden. Ich hoffe sogar, dass 2021 nicht alles so ist wie bisher. Ich hoffe, dass die Menschheit aus dieser Pandemie lernt, und dass sich mancher Wahnsinn ändert. Ich will nicht, dass wir auch in Zukunft in Wien täglich mehr Brot wegschmeißen als Graz zum Leben braucht. Ich will nicht, dass man um 9 Euro nach Barcelona auf einen Kaffee fliegt, dass man die Produktion von Antibiotika nach China oder Indien auslagert. Es ist nicht einsichtig, warum täglich 220.000 Flugzeuge unterwegs sein sollen. Ich hoffe schon, dass es einen riesigen Umdenkprozess gibt. Man muss nicht für ein Businessmeeting nach London fliegen. Wir lernen momentan gerade: es funktioniert auch mit Video. Wir sind damit viel schneller und effektiver.
Welche Rückmeldungen bekommen Sie aktuell aus der Laufcommunity?
Sehr viel Verständnis und Empathie für die Entscheidung der Absage und die gegenwärtige Situation. Uns erreichen Mails, die mich sehr rühren, weil die Leute sich so sehr auf den nächsten VCM freuen.
Wenn man uns die Chance gibt, diese Krise zu bewältigen, bin ich mit dem gesamten Team gewillt, die volle Kraft aufzubringen, um den VCM 2021 neu entstehen und strahlen zu lassen.
Quelle: Wien Marathon