Ob alle Athleten beim Olympia-Marathon vergleichbares Schuh-Material haben werden, erscheint fraglich. Foto: www.photorun.net Photo: Victah Sailer@Photo Run
Weltverband legalisiert umstrittenen Weltrekord-Marathonschuh, Eliud Kipchoges 1:59-Modell jedoch nicht regelkonform
Mark Milde hatte offenbar eine Vorahnung.
Der Race-Direktor des BERLIN-MARATHONS sagte im Rahmen einer hier im Sommer 2016 veröffentlichten Umfrage bezüglich der Zwei-Stunden-Barriere im Marathonlauf: „Ich denke, dass die Zwei-Stunden-Barriere eines Tages durchbrochen wird … Ich kann mir vorstellen, dass Weiterentwicklungen im Laufschuhbereich eine Rolle spielen können …“
Genau das bewahrheitete sich, und in den letzten Monaten standen die Schuhe von Langstreckenläufern so sehr im Mittelpunkt wie noch nie.
2018 lief der kenianische Olympiasieger Eliud Kipchoge in Berlin mit 2:01:39 Stunden einen Marathon-Weltrekord, der nur noch 100 Sekunden von einer regulären Zeit von unter zwei Stunden entfernt ist. Ein gutes Jahr später durchbrach der Kenianer diese Barriere in einem allerdings illegalen Rennen in Wien mit 1:59:40,2. Einen Tag später stürmte seine Landsfrau Brigid Kosgei in Chicago zu einem sensationellen Marathon-Weltrekord von 2:14:04.
Alle diese Zeiten sowie das Gros der weiteren Top-Ergebnisse wurden in verschiedenen, neu entwickelten Schuhen des führenden US-amerikanischen Sportartikel-Herstellers gelaufen. Der Konzern begann zudem mit der Entwicklung von neuen Spikes für die Sprint-Distanzen. Nachdem der internationale Leichtathletik-Verband World Athletics (WA) lange Zeit zuschaute, setzte der Verband schließlich eine Kommission ein, die sich mit dem Thema beschäftigte.
Es ist offensichtlich, dass Athleten, die mit dem US-Konzern verbunden sind, zurzeit Vorteile haben gegenüber jenen Konkurrenten, die von anderen Sportartikel-Herstellern unterstützt werden und noch nicht über entsprechende Modelle verfügen.
Bei den sieben Rennen, die 2019 zu der World Marathon Majors-Serie zählten, trugen alle sieben Männer-Sieger die Schuhe des US-Konzerns. Von den 21 Top-3-Platzierungen bei diesen Rennen hatten nur zwei Läufer Schuhe einer anderen Marke.
Bei den Frauen war es ähnlich: Vier der 21 Podiums-Platzierungen wurden mit einem deutschen Modell erzielt, die anderen jeweils mit einem Schuh der US-Firma.
Wie der Berliner Physik-Professor Helmut Winter, der bei vielen internationalen Straßenrennen als Experte im Einsatz ist, auf seiner Internetseite run.hwinter.de weiterhin darlegt, spricht viel dafür, dass die besten Marathonzeiten weltweit 2019 um rund 1,5 Prozent schneller waren als noch drei Jahre zuvor – das sind umgerechnet auf die Distanz von 42,195 km rund 1:45 Minuten.
Bei den Frauen könnte der Unterschied wohl sogar 2 Prozent betragen haben und damit rund 3:00 Minuten auf der Marathondistanz. Dies mag nicht alleine mit den Schuhen zusammenhängen – so ist im Vorfeld von Olympischen Spielen auch aufgrund der schweren Qualifikation immer wieder eine gewisse Leistungssteigerung zu beobachten -, doch offenbar spielen sie eine deutlich stärkere Rolle als ursprünglich gedacht.
Eine Reihe von ehemaligen Weltklasse-Langstreckenläufern haben sich kritisch geäußert bezüglich der neuen Schuh-Modelle. „Dies Schuhe müssen verboten werden“, wird der frühere 5.000-m-Läufer Tim Hutchings im Leichtathletik-Newsletter „Athletics International“ zitiert. „Diese Technologie hat dazu geführt, dass es derart dramatische Leistungssteigerungen gibt, dass der Sport beschädigt wird. Es fallen persönliche Bestzeiten, nationale Rekorde, Streckenrekorde und sogar Weltrekorde – das ist lächerlich“, erklärte der heute als TV-Kommentator arbeitende Tim Hutchings.
Eliud Kipchoge durchbrach in Wien im vergangenen Oktober die Zwei-Stunden-Barriere. Während sein Schuh von diesem Rennen nicht als regulär eingestuft wurde, gelten die anderen Modelle als legal. Foto: INEOS 1:59 Challenge
Trotz der Kritik hat World Athletics nun jedoch jene Schuhe, mit denen so gut wie alle Top-Zeiten gelaufen wurden, legalisiert (German Road Races berichtete schon). Der Verband gab bekannt, dass die Sohle nicht dicker als 40 Millimeter sein darf und sich nicht mehr als eine Platte im Schuh befinden darf. Diese kann in mehrere Stücke aufgeteilt sein, darf aber zum Beispiel nicht übereinander liegen oder überlappen. Legal sind damit die Schuhe, in denen Eliud Kipchoge und Brigid Kosgei ihre Weltrekorde in Berlin und Chicago liefen. Nicht regelkonform ist dagegen jenes Modell, das Kipchoge in Wien bei seinem ohnehin nicht legalen Rennen nutzte, bei dem er erstmals unter zwei Stunden lief.
Ein Regelzusatz von World Athletics macht es nun jedoch den Konkurrenten des US-Konzerns schwer, ihre Athleten noch rechtzeitig für die Olympischen Spiele mit entsprechenden, neuen Modellen auszurüsten. So müssen neue Modelle zukünftig mindestens vier Monate lang im Handel angeboten worden sein, bevor sie von Elite-Athleten im Wettkampf getragen werden dürfen.
Da die olympischen Marathonläufe am 8. und 9. August stattfinden, müssten also neue Schuhe spätestens Anfang April auf dem Markt sein. Das könnte schwierig werden.
Die Regelung könnte zudem eine kuriose Begleiterscheinung haben: So könnte zum Beispiel ein deutscher Konzern Ende März einen neuen Schuh einführen, den dann bei den großen Frühjahrs-Marathonrennen zwar Breitensportler tragen dürfen, nicht jedoch die Eliteläufer!